Pragmatikerin trifft Polterer
Der Besuch von Kanzlerin Angela Merkel beim türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan wird zu einer Gratwanderung: Gehen beim Flüchtlingspakt die Menschenrechte über Bord?
Wenn sich Angela Merkel heute, Montag, mit Recep Tayyip Erdoğan trifft, geht es um das wohl wichtigste außenpolitische Projekt ihrer bald elfjährigen Regierungszeit. Will der türkische Präsident den Flüchtlingspakt mit der EU tatsächlich platzen lassen, wie er es im Streit um die Visumfreiheit für die Bürger seines Landes indirekt angedroht hat? Oder sendet er Signale der Verhandlungsbereitschaft? Klar ist: Kommt die Kanzlerin mit leeren Händen zurück nach Berlin, dürfte die Kritik auch aus den eigenen Reihen am Flüchtlingskurs noch lauter werden.
Merkel weiß, dass so mancher sie ganz gern scheitern sehen würde bei dem Versuch, die Flüchtlingskrise mit Hilfe Erdoğans zu lösen. Viele CDU-Abgeordnete sind wegen sinkender Umfragewerte schwer verunsichert. Selbst Wohlmeinende in der Union beschreiben drastisch, wie unpopulär Merkels Pendeldiplomatie – ihre Türkei-Reise ist die fünfte in sieben Monaten – im Parteivolk ist: Die Leute hätten den Eindruck, „wir werfen uns dort vor die Füße und betteln“, heißt es. „Jeder Besuch unterstreicht das.“
Direkt vor Merkels Abflug am Sonntag gibt CSU-Chef Horst Seehofer der Kanzlerin noch einen vergifteten Ratschlag mit auf den Weg: Deutschland dürfe sich nicht „erpressbar“von Erdoğan machen, warnt er. Auch der Koalitionspartner SPD wittert eine Chance, sich von der Kanzlerin abzusetzen. Der sozialdemokratische Fraktionschef Thomas Oppermann verlangt von ihr, sie solle ein deutliches Zeichen setzen und sich mit Oppositionsvertretern in der Türkei treffen. Mit Erdoğan müsse sie „Klartext reden“. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter schlägt in eine ähnliche Kerbe, wenn er sagt: „Merkel darf vor Erdoğan nicht einknicken, nur damit er ihr und Europa weiter die Flüchtlinge vom Hals hält.“
Wie sehr die Kanzlerin solche Äußerungen ärgern, zeigt sie in einem Interview, das am Tag ihrer Abreise nach Istanbul in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“erscheint: „Was mich irritiert, ist, dass ich manchmal fast so etwas wie eine Freude am Scheitern beobachte.“Namen nennt sie nicht.
„Natürlich bereiten uns einige Entwicklungen in der Türkei große Sorgen“, sagt Merkel in diesem Interview. Sie kritisiert, dass „der Prozess der Annäherung und Aussöhnung mit den Kurden im letzten Jahr abgebrochen“sei. Die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sei auch aus deutscher Sicht eine terroristische Vereinigung, aber die kurdische Bevölkerung müsse einen „gleichberechtigten Platz und eine gute Zukunft in der Türkei“haben. Die vom türkischen Parlament beschlossene Aufhebung der Immunität von Abgeordneten sei „mit schwerwiegenden Folgen“für kurdische Politiker verbunden, das erfülle sie „mit großer Sorge“.
Merkel weist zudem den Vorwurf zurück, dass sie sich mit dem zwischen der EU und Ankara ausgehandelten Flüchtlingsabkommen in eine einseitige Abhängigkeit von der Türkei begeben habe. „Es gibt natürlich wechselseitige Abhängigkeiten“, betont sie. Merkel macht deutlich, wie sie mit Erdoğan umgehen will. Immer schriller sind dessen Töne in Richtung Deutschland und Europa zuletzt geworden. Merkel setzt dem ihren pragmatisch-ruhigen Ton entgegen. Sie konzentriere sich darauf, versichert sie, „genau zu beobachten, wie die Türkei mit ihren Zusagen umgeht. Bis jetzt setzt sie sie verlässlich um.“Ob die Taktik der Kanzlerin wirkt, ist offen. Denn seit Wochen läuft Erdoğan besonders gegen eine Bedingung der EU für die Visumfreiheit Sturm: die Reform der türkischen Anti-TerrorGesetze. Die EU will erreichen, dass diese Regelungen nicht gegen politische Gegner und Journalisten missbraucht werden. So drohen Abgeordneten der prokurdischen Partei HDP Verfahren nach diesen Gesetzen, nachdem ihre Immunität – wie von Erdoğan gefordert – am Freitag aufgehoben worden ist.
Angela Merkel setzt auf einen Interessenausgleich zwischen der Türkei und der EU. Doch einfacher sind die Gespräche mit Erdoğan für sie am Wochenende nicht geworden. In der Türkei wurde Erdoğans enger Vertrauter Binali Yildirim als neuer Parteichef der regierenden AKP und damit auch als neuer Premier gewählt. In Deutschland warf Pro Asyl ihr vor, für das Flüchtlingsabkommen Menschenrechte geopfert zu haben.