Der Zaun des Anstoßes
Der Kampf gegen die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf erfasste ganz Salzburg. Führend war die „Überparteiliche Plattform gegen die WAA“. Die Politik zog mit.
SALZBURG. Gabriele Fischer griff erschrocken zum Telefon. Die Bäuerin meldete beim Landratsamt in Schwandorf, „dass hier die Polizei einmarschiert ist“. Es ist Ostermontag, der 31. März 1986. 500 Beamte sind zur Staatsaktion aufmarschiert. Drei Stunden brauchen die Polizisten, um alle Gebäude des Örtchens Kölbldorf zu durchsuchen. Sie nehmen 32 Übernachtungsgäste in der Scheune fest. Die jungen Leute versäumen die Demo am nahe gelegenen, festungsartig aufgerüsteten Bauzaun der Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf. 100.000 Menschen versammeln sich dort zum bisher größten Protest gegen die geplante Atomfabrik. Insgesamt 10.000 Polizisten und 41 Wasserwerfer sind im Einsatz. Erstmals versprühen die Beamten das Kampf- und Reizgas CS. Kanister werden aus Hubschraubern in die Menge geworfen. Bürgerkriegsszenen in Bayern, hartnäckiger Protest seit Jahren.
Das Projekt WAA Wackersdorf war einer der vielen Irrtümer von Ministerpräsident und CSU-Chef Franz Josef Strauß. Er hatte dem staatlichen Energiekonzern VEBA ein 120 Hektar großes Grundstück in der Oberpfalz versprochen. Dort gebe es eine „industriegewohnte Bevölkerung“, mit einer „raschen und ungestörten Realisierung“der Anlage sei zu rechnen. Der Standort war nur 180 Kilometer von Salzburg entfernt. Im teuersten Industrieprojekt der deutschen Geschichte sollte Plutonium gewonnen werden, als „unverzichtbar“bezeichnete Kanzler Helmut Kohl das Vorhaben. Widerstand breitete sich aus, vorerst nur in der Region.
Doch am 26. April 1986 explodierte der Atomreaktor in Tschernobyl in der Ukraine. Plötzlich war die Anti-Atomkraft-Bewegung keine Sache von Spinnern und Chaoten mehr. Zehntausende demonstrierten nun Wochenende um Wochenende am Bauzaun von Wackersdorf. Zu Pfingsten kam es zu den bisher blutigsten Auseinandersetzungen mit der Polizei. 500 Menschen erlitten Verletzungen. Die Schlägertrupps der Polizei waren gefürchtet. „Terror in Vollendung“hatte der Schwandorfer SPD-Landrat Hans Schuierer eine der vielen Räumungen des Geländes genannt, als er Zeuge wurde, wie eine Frau von einem Polizeihund schwer verletzt wurde. „Volksaufwiegler“, nannte ihn F. J. Strauß, „Rädelsführer“und „Strolch“. „Reisende Bürgerkriegsarmeen“marodierten in der Oberpfalz „Das Atom nagt an der Demokratie“, titelten die SN. Es wurde nicht leichter für CSU und Strauß. Am 1. Juni 1986 überschritt der Widerstand ganz offiziell die Grenze. Euphorisch wurden am Bahnhof in Schwandorf rund 3000 aus Salzburg angereiste WAA-Gegner begrüßt. In der Mozartstadt hatte die „Überparteiliche Plattform gegen die WAA-Wackersdorf“unter Führung der Zwentendorf-Veteranen Heinz Stockinger und Hannes Augustin die Zivilgesellschaft mobilisiert. Der Französischlehrer und der Naturschutzbund-Geschäftsführer fuhren einen fulminanten Erfolg ein. Es entstand die größte Bürgerinitiative, die es je in Salzburg gab. Die Politik konnte sich nicht entziehen. Folge war eine handfeste Krise zwischen den befreundeten Landesfürsten Strauß in Bayern und Wilfried Haslauer sen. in Salzburg. Als die Salzburger mit einem Beschluss gegen die WAA protestierten, schrieb Strauß persönlich und per Sie an seinen Duzfreund Haslauer, er vermute, die „sach- und problemunkundige Salzburger Landesregierung“habe sich vor den Karren der deutschen SPD spannen lassen.
Bei einer Festrede in München im Juni ließ Haslauer dann die vorbereitete kritische Passage zu Wackersdorf aus. Der Festakt sei ein nicht angemessener Rahmen gewesen, rechtfertige er sich. SN-Chefredakteur Karl Heinz Ritschel war anderer Ansicht. „Es gibt keinen unpassenden Rahmen, um die existenziellen Sorgen der Bevölkerung des ganzen Bundeslandes wegen des Baues der WAA vorzutragen“, schrieb er in einem Leitartikel. Haslauer habe Salzburg einen „schlechten Dienst“erwiesen.
Im August berichtete die Hamburger „Zeit“von den Festspielen: „Hoch über der Stadt, an einem Felsen des Mönchsbergs, hängt ein weißes Transparent. Es ist mit dem Atomzeichen bemalt. Darüber steht ,WAA‘ darunter ,Nie‘. Dieses Transparent, das man bei jeder Anti-Atom-Demonstration und in der Oberpfalz schon in den Vorgärten findet, wirkt hier, auf den Mönchsbergfelsen geklebt, wie ein geflügeltes Wort von Prometheus.“Auf dem Alten Markt vor dem Tomaselli ist ein Stück des Wackersdorfer Bauzauns nachgebildet, es gibt Demos vor dem Festspielhaus und Unterschriftenaktionen. „Kein Wunder, dass Franz Josef Strauß nicht mehr nach Salzburg kam (wo er sich im Übrigen auch nicht mehr blicken lassen kann). So viel selbstbewusstes Bürgertum plötzlich!“
Gerade erst hatte Strauß an den neu gewählten Bundespräsidenten Kurt Waldheim geschrieben, der Widerstand aus der Alpenrepublik „stelle allmählich eine Zumutung dar“. Die Zumutung wollte nicht enden. Auch die Landesregierung unter Haslauer schwenkte auf Totalwiderstand um. Er könne sich „nicht vorstellen, dass die WAA angesichts des Widerstands in Betrieb geht“.
Doch München trieb die Vorbereitungen voran. Im Sommer 1988 begannen in Neunburg vorm Wald die Erörterungen der Einwendungen im Baugenehmigungsverfahren. Von den 881.000 Einwendungen kamen rund die Hälfte aus Österreich, mehr als 100.000 aus Salzburg. Das waren deutlich mehr als 40 Prozent der Wahlberechtigten. Die SN organisierten eine Leserfahrt. Die Politik war unter anderem mit Landesrat Sepp Oberkirchner, Bürgermeister Josef Reschen (beide SPÖ) und Umweltministerin Marilies Fleming (ÖVP) vertreten. Das Erörterungsverfahren wurde von der völlig überforderten Behörde nach einigen Wochen sang- und klanglos abgebrochen. Franz Josef Strauß, der die WAA für kaum gefährlicher als eine „Fahrradspeichenfabrik“hielt, starb im Oktober 1988.
Im Frühjahr 1989 verkündete der Betreiber VEBA überraschend den Ausstieg. Chef Rudolf Bennigsen-Foerder sagte im „Spiegel“, er wolle den „energiepolitischen Konsens“wiederherstellen. Außerdem habe er bereits vor Tschernobyl gemeint, dass „Kernenergie nur eine Übergangsenergie ist“. Die Industriepolitik „sei aufgerufen, alternative Energien zu stützen und zu fördern“.
24 Jahre später beschloss Deutschland den Ausstieg aus der Atomkraft. Aus dem Staatskonzern VEBA wurde im Jahr 2000 die börsenotierte E.ON. Wackersdorf ist heute ein Industriepark. Heinz Stockinger ist in Pension. Und Hannes Augustin fällt als Geschäftsführer des Naturschutzbundes der etablierten Politik immer noch lästig.
„Nie da gewesener Widerstand über die Grenze hinweg.“