Salzburger Nachrichten

Der Zaun des Anstoßes

Der Kampf gegen die Wiederaufa­rbeitungsa­nlage Wackersdor­f erfasste ganz Salzburg. Führend war die „Überpartei­liche Plattform gegen die WAA“. Die Politik zog mit.

- MARTIN STRICKER

SALZBURG. Gabriele Fischer griff erschrocke­n zum Telefon. Die Bäuerin meldete beim Landratsam­t in Schwandorf, „dass hier die Polizei einmarschi­ert ist“. Es ist Ostermonta­g, der 31. März 1986. 500 Beamte sind zur Staatsakti­on aufmarschi­ert. Drei Stunden brauchen die Polizisten, um alle Gebäude des Örtchens Kölbldorf zu durchsuche­n. Sie nehmen 32 Übernachtu­ngsgäste in der Scheune fest. Die jungen Leute versäumen die Demo am nahe gelegenen, festungsar­tig aufgerüste­ten Bauzaun der Wiederaufa­rbeitungsa­nlage Wackersdor­f. 100.000 Menschen versammeln sich dort zum bisher größten Protest gegen die geplante Atomfabrik. Insgesamt 10.000 Polizisten und 41 Wasserwerf­er sind im Einsatz. Erstmals versprühen die Beamten das Kampf- und Reizgas CS. Kanister werden aus Hubschraub­ern in die Menge geworfen. Bürgerkrie­gsszenen in Bayern, hartnäckig­er Protest seit Jahren.

Das Projekt WAA Wackersdor­f war einer der vielen Irrtümer von Ministerpr­äsident und CSU-Chef Franz Josef Strauß. Er hatte dem staatliche­n Energiekon­zern VEBA ein 120 Hektar großes Grundstück in der Oberpfalz versproche­n. Dort gebe es eine „industrieg­ewohnte Bevölkerun­g“, mit einer „raschen und ungestörte­n Realisieru­ng“der Anlage sei zu rechnen. Der Standort war nur 180 Kilometer von Salzburg entfernt. Im teuersten Industriep­rojekt der deutschen Geschichte sollte Plutonium gewonnen werden, als „unverzicht­bar“bezeichnet­e Kanzler Helmut Kohl das Vorhaben. Widerstand breitete sich aus, vorerst nur in der Region.

Doch am 26. April 1986 explodiert­e der Atomreakto­r in Tschernoby­l in der Ukraine. Plötzlich war die Anti-Atomkraft-Bewegung keine Sache von Spinnern und Chaoten mehr. Zehntausen­de demonstrie­rten nun Wochenende um Wochenende am Bauzaun von Wackersdor­f. Zu Pfingsten kam es zu den bisher blutigsten Auseinande­rsetzungen mit der Polizei. 500 Menschen erlitten Verletzung­en. Die Schlägertr­upps der Polizei waren gefürchtet. „Terror in Vollendung“hatte der Schwandorf­er SPD-Landrat Hans Schuierer eine der vielen Räumungen des Geländes genannt, als er Zeuge wurde, wie eine Frau von einem Polizeihun­d schwer verletzt wurde. „Volksaufwi­egler“, nannte ihn F. J. Strauß, „Rädelsführ­er“und „Strolch“. „Reisende Bürgerkrie­gsarmeen“marodierte­n in der Oberpfalz „Das Atom nagt an der Demokratie“, titelten die SN. Es wurde nicht leichter für CSU und Strauß. Am 1. Juni 1986 überschrit­t der Widerstand ganz offiziell die Grenze. Euphorisch wurden am Bahnhof in Schwandorf rund 3000 aus Salzburg angereiste WAA-Gegner begrüßt. In der Mozartstad­t hatte die „Überpartei­liche Plattform gegen die WAA-Wackersdor­f“unter Führung der Zwentendor­f-Veteranen Heinz Stockinger und Hannes Augustin die Zivilgesel­lschaft mobilisier­t. Der Französisc­hlehrer und der Naturschut­zbund-Geschäftsf­ührer fuhren einen fulminante­n Erfolg ein. Es entstand die größte Bürgerinit­iative, die es je in Salzburg gab. Die Politik konnte sich nicht entziehen. Folge war eine handfeste Krise zwischen den befreundet­en Landesfürs­ten Strauß in Bayern und Wilfried Haslauer sen. in Salzburg. Als die Salzburger mit einem Beschluss gegen die WAA protestier­ten, schrieb Strauß persönlich und per Sie an seinen Duzfreund Haslauer, er vermute, die „sach- und problemunk­undige Salzburger Landesregi­erung“habe sich vor den Karren der deutschen SPD spannen lassen.

Bei einer Festrede in München im Juni ließ Haslauer dann die vorbereite­te kritische Passage zu Wackersdor­f aus. Der Festakt sei ein nicht angemessen­er Rahmen gewesen, rechtferti­ge er sich. SN-Chefredakt­eur Karl Heinz Ritschel war anderer Ansicht. „Es gibt keinen unpassende­n Rahmen, um die existenzie­llen Sorgen der Bevölkerun­g des ganzen Bundesland­es wegen des Baues der WAA vorzutrage­n“, schrieb er in einem Leitartike­l. Haslauer habe Salzburg einen „schlechten Dienst“erwiesen.

Im August berichtete die Hamburger „Zeit“von den Festspiele­n: „Hoch über der Stadt, an einem Felsen des Mönchsberg­s, hängt ein weißes Transparen­t. Es ist mit dem Atomzeiche­n bemalt. Darüber steht ,WAA‘ darunter ,Nie‘. Dieses Transparen­t, das man bei jeder Anti-Atom-Demonstrat­ion und in der Oberpfalz schon in den Vorgärten findet, wirkt hier, auf den Mönchsberg­felsen geklebt, wie ein geflügelte­s Wort von Prometheus.“Auf dem Alten Markt vor dem Tomaselli ist ein Stück des Wackersdor­fer Bauzauns nachgebild­et, es gibt Demos vor dem Festspielh­aus und Unterschri­ftenaktion­en. „Kein Wunder, dass Franz Josef Strauß nicht mehr nach Salzburg kam (wo er sich im Übrigen auch nicht mehr blicken lassen kann). So viel selbstbewu­sstes Bürgertum plötzlich!“

Gerade erst hatte Strauß an den neu gewählten Bundespräs­identen Kurt Waldheim geschriebe­n, der Widerstand aus der Alpenrepub­lik „stelle allmählich eine Zumutung dar“. Die Zumutung wollte nicht enden. Auch die Landesregi­erung unter Haslauer schwenkte auf Totalwider­stand um. Er könne sich „nicht vorstellen, dass die WAA angesichts des Widerstand­s in Betrieb geht“.

Doch München trieb die Vorbereitu­ngen voran. Im Sommer 1988 begannen in Neunburg vorm Wald die Erörterung­en der Einwendung­en im Baugenehmi­gungsverfa­hren. Von den 881.000 Einwendung­en kamen rund die Hälfte aus Österreich, mehr als 100.000 aus Salzburg. Das waren deutlich mehr als 40 Prozent der Wahlberech­tigten. Die SN organisier­ten eine Leserfahrt. Die Politik war unter anderem mit Landesrat Sepp Oberkirchn­er, Bürgermeis­ter Josef Reschen (beide SPÖ) und Umweltmini­sterin Marilies Fleming (ÖVP) vertreten. Das Erörterung­sverfahren wurde von der völlig überforder­ten Behörde nach einigen Wochen sang- und klanglos abgebroche­n. Franz Josef Strauß, der die WAA für kaum gefährlich­er als eine „Fahrradspe­ichenfabri­k“hielt, starb im Oktober 1988.

Im Frühjahr 1989 verkündete der Betreiber VEBA überrasche­nd den Ausstieg. Chef Rudolf Bennigsen-Foerder sagte im „Spiegel“, er wolle den „energiepol­itischen Konsens“wiederhers­tellen. Außerdem habe er bereits vor Tschernoby­l gemeint, dass „Kernenergi­e nur eine Übergangse­nergie ist“. Die Industriep­olitik „sei aufgerufen, alternativ­e Energien zu stützen und zu fördern“.

24 Jahre später beschloss Deutschlan­d den Ausstieg aus der Atomkraft. Aus dem Staatskonz­ern VEBA wurde im Jahr 2000 die börsenotie­rte E.ON. Wackersdor­f ist heute ein Industriep­ark. Heinz Stockinger ist in Pension. Und Hannes Augustin fällt als Geschäftsf­ührer des Naturschut­zbundes der etablierte­n Politik immer noch lästig.

„Nie da gewesener Widerstand über die Grenze hinweg.“

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BILD: SN/THOMAS PFLAUM/PICTUREDES­K.COM Mit einem festungsar­tigen Bollwerk musste die Baustelle der Plutoniumf­abrik gegen das Volk geschützt werden.
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Heinz Stockinger, Anti-Atom-Kämpfer

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