Gelten nun?
In der eben erst umgebildeten Regierung ist der erste Konflikt ausgebrochen. Davon abgesehen herrscht nun generell Erklärungsbedarf, wo die Flüchtlingsobergrenze nun tatsächlich liegt. Heftige Kritik bei der RichterInnenwoche: „Asylrecht quasi abgeschafft
Lang hat’s nicht gedauert bis zum ersten Kratzer am Bild der neuen Harmonie von SPÖ und ÖVP. Es sind von Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) verkündete Zahlen und – vermutlich – ein Versprecher zur Flüchtlingsobergrenze, die für nervöse Stellungnahmen und Schuldzuweisungen sorgen. Wobei die blitzartige Reaktion von Kerns Parteifreund, Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil, besonders hellhörig macht: „Wir müssen mit Zahlen sorgfältiger umgehen, sonst machen wir uns bei der Bevölkerung lächerlich.“
Kern hatte am Dienstag erklärt, heuer seien bisher 11.000 auf die Obergrenze von 37.500 anzurechnende Asylanträge gestellt worden. Und er hatte außerdem gesagt, die Obergrenze sei bei 37.500 Asylberechtigten erreicht. Gemeint dürfte er Asylbewerber haben, denn auf sie bezieht sich die Obergrenze. Erfahrungsgemäß werden nur aus etwa einem Drittel der Asylbewerber auch Asylberechtigte, da ihre Verfahren positiv entschieden werden.
Freilich machte schon die Zahl 11.000 stutzig genug, schließlich dürften bis Ende Mai mindestens doppelt so viele Asylanträge gestellt worden sein (zumal es schon bis Ende April 18.600 waren, wie der Homepage des Innenministeriums zu entnehmen ist). Erklärt wurde die krass niedrigere Zahl so: Da seien schon die Antragsteller herausgerechnet, für die theoretisch andere EU-Länder zuständig seien – die sogenannten Dublin-Fälle – sowie der Familiennachzug. Die Dublin- Angriff auf Grundrechte Sobald die Regierung die mit der mit 1. Juni in Kraft getretenen Asylrechtsverschärfung möglich gewordene Notverordnung erlässt, wäre das Asylrecht in Österreich quasi abgeschafft. Das betonte der Rechtsanwalt Ronald Frühwirth am Mittwoch im Gespräch mit den SN. Frühwirth kritisierte in einem Vortrag bei der RichterInnenwoche in Tröpolach den Angriff Österreichs auf die Grundrechte von Asylsuchenden. Trete die Verordnung in Kraft, bestehe keine Verpflichtung mehr, Asylanträge zu prüfen. Es könne dann, bevor es überhaupt zu einer Erstbefragung Vereinbarung sieht vor, dass jenes Land das Asylverfahrens abwickeln muss, in dem ein Schutzsuchender erstmals EU-Boden betreten hat oder zumindest erstmals registriert wurde. Derartige Rückführungen dauern allerdings, weshalb sämtliche Antragsteller – ob sie nun zum Asylverfahren zugelassen oder via Rückführungsverfahren außer Landes gebracht werden (sollen) – erst einmal in Österreich bleiben, untergebracht und versorgt werden müssen.
Der Papierform nach hat Kern allerdings recht: In der beim Asylgipfel am 20. Jänner zwischen Bund, Ländern, Städten und Gemeinden geschlossenen Vereinbarung zum Flüchtlingsrichtwert heißt es knapp, dass heuer höchstens 37.500
komme, sofort eine „Außerlandesschaffung“passieren. Dies sei mit den im Asylverfahren geltenden Grundsätzen unvereinbar.
Notstand nicht gegeben Die Regierung berufe sich auf die Abweichungsbefugnis in Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU. Frühwirth betont, die dazu notwendige Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in Österreich sei durch einen großen Zustrom von Schutzsuchenden nicht gegeben. Das allein könne kein Kriterium für Ausrufung eines Notstands sein. Frühwirt ist überzeugt, dass die Regelung einer Anfechtung nicht standhalten würde. Menschen „zum Asylverfahren zuzulassen“sind. Ein Hinweis darauf, dass Dublin-Fälle und der Familiennachzug nicht auf die Obergrenze angerechnet werden, fehlt.
Das könnte drastische Folgen haben: Da Österreich offenbar für sehr viele Asylsuchenden theoretisch nicht zuständig ist, wäre die Obergrenze praktisch erst erreicht, wenn sie deutlich überschritten ist. Das wirft die Frage auf: Wann steigt Österreich auf die Notbremse und setzt die sogenannte Notfallverordnung in Kraft, um weiteren Zustrom zu stoppen? Erst wenn sich unter Zehntausenden Antragstellern 37.500 befinden, die hier zum Asylverfahren zugelassen werden? Oder vorher? Und wird der Familiennachzug auf die Obergrenze Grundrecht auf Asyl Aus der Grundrechtecharta der EU ergibt sich für Frühwirth zumindest insofern ein Recht auf Asyl, als der Asylbewerber das Recht darauf habe, dass sein Asylantrag geprüft werde. Bei Inkrafttreten der Notverordnung könnte die Abschiebung schon stattfinden, bevor es überhaupt zu einer Befragung komme. Recht auf effektive Beschwerde Der Europarechtler Walter Obwexer habe in seinem Gutachten für die Regierung apodiktisch erklärt, dass es kein subjektives Recht auf Asyl aus der Grundrechtecharta gebe. Gewichtige Gegenmeinungen seien ignoriert worden. Konkrete Judikatur nun angerechnet oder nicht? Kurz: Welche Zählweise gilt?
Der Kanzler sagte zwar am Dienstag, die Regierung setze sich „ab sofort“mit der Notfallverordnung auseinander, einen Zeitpunkt, wann sie wohl in Kraft treten dürfte, nannte er nicht. Bisher war davon ausgegangen worden, dass die Obergrenze im Sommer erreicht ist und die Verordnung – samt Kontrollen und Registrierzentren an den Grenzen – aktiviert wird. Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP) erklärte, er hoffe, dass es sich bei der Lesart des Kanzlers um eine „Missinterpretation“und nicht um einen „Linksruck“des designierten SPÖChefs handle. Aus seiner Sicht – und generell aus ÖVP-Sicht – sei die Obergrenze bei 37.500 Asylanträgen erreicht, egal ob letztlich Österreich oder ein anderes EU-Land für das Verfahren zuständig ist.
Der neue Kanzleramtsminister Thomas Drozda (SPÖ) gibt dagegen dem Innenminister die Schuld an der Verwirrung und fordert eine regelmäßige und transparente Veröffentlichung von Zahlen, auch zu den Dublin-Fällen (die in den monatlichen Asylstatistiken des Innenressorts tatsächlich nicht aufscheinen).
Die Rückführung von Asylbewerbern in andere EU-Länder ist eine komplizierte Angelegenheit. Jedenfalls muss ein Konsultationsverfahren eröffnet werden. Relativ eindeutig sind Fälle, in denen Asylsuchende in einem anderen Land bereits registriert wurden und ihre Fingerabdrücke abgaben. Aber auch dann muss die österreichische Asylbehörde mit der Asylbehörde in der Frage gebe es nicht. Aus wesentlicher Judikatur zur Europäischen Menschenrechtskonvention ergebe sich aber ein Recht auf ein effektives Beschwerdeverfahren mit aufschiebender Wirkung, sagt Frühwirth. „Denn wie soll jemand aus dem Ausland in Österreich ein Verfahren führen?“ Kerns Berechnung „folgerichtig“Eine Obergrenze sei immer europarechtswidrig, sagt Frühwirth. In der regierungsintern umstrittenen Berechnung der auf die Obergrenze anzurechnenden Asylanträge durch Kanzler Kern sieht Frühwirth keinen Schwenk. Man könne keine Asylanträge einrechnen, die nicht geprüft des jeweiligen EU-Landes über die Rückführung verhandeln, wobei nach Ungarn derzeit überhaupt nicht zurückgeschoben wird. Schwieriger ist es, wenn Asylsuchende noch nirgendwo einen Antrag gestellt haben, aber – worauf zum Beispiel Fahrkarten hindeuten – durch andere EU-Länder nach Österreich gekommen sind (was so gut wie immer der Fall ist). Wer ist dann zuständig? Das Land, in dem die Fahrkarte gelöst wurde, auch wenn es vielleicht nicht das erste Land war, in dem ein Flüchtling EU-Boden betreten hat?
Je nach Land, mit dem die Konsultationsverfahren geführt werden (und je nach Eindeutigkeit des Falles) dauert es unterschiedlich lang, bis bzw. ob es zu Rückschiebungen kommt. Karlheinz Grundböck, Sprecher des Innenministeriums, sagt, es könne sich um Tage, Wochen oder Monate handeln.
Der Normalfall dürften Monate sein. Anders ist kaum zu erklären, warum es im vergangenen Jahr bei fast 90.000 in Österreich gestellten Asylanträgen lediglich zu 1300 Dublin-Abschiebungen in die zuständigen EU-Länder kam.
Gleich an der Grenze dürfen Flüchtlinge nicht abgewiesen werden, solange die Notfallverordnung nicht in Kraft gesetzt ist, wie Grundböck betont. „Wenn jetzt einer an der Grenze ,Asyl‘ sagt, muss er ins Land gelassen werden. Und dann wird ein Dublin-Verfahren eingeleitet.“Erst mit der Verordnung, die mit Erreichen der Obergrenze in Kraft treten soll, wäre es möglich, Menschen schon an der Grenze zurückzuweisen.
würden. „Das ist nur folgerichtig. – Alles andere wäre absurd.“
Überlange Verfahrensdauer Unabhängig von der Novelle kritisiert Frühwirth die zu lange Verfahrensdauer bei Personen, die ganz offenkundig berechtigte Asylanträge stellten, vor allem Syrer und Iraker. 80 Prozent der Syrer erhielten Asyl, der Rest bekomme subsidiären Schutz. Trotzdem dauere es im Schnitt zwölf bis 13 Monate, bis es überhaupt zu einer Einvernahme komme. Dramatisch vor allem für Angehörige, die erst nach abgeschlossenem Verfahren aus den Krisengebieten nachgeholt werden könnten.