Die Asylobergrenze hält nicht
Die Regierung bereitet sich in der Flüchtlingskrise auf den „Notfall“vor. Der Innenminister drückt aufs Tempo, der Kanzler will noch „keinen Notstand konstruieren“.
Als die Regierung Ende Jänner die Flüchtlingsobergrenze von 37.500 beschloss, hieß der Kanzler noch nicht Christian Kern (SPÖ) und der Innenminister noch nicht Wolfgang Sobotka (ÖVP). Wie die damalige Vereinbarung zu lesen sei, scheint nach einer am Dienstag von Kern ausgelösten Verwirrung um Zahlen und Begriffe nun aber außer Streit zu stehen. Auf die Obergrenze angerechnet wird nicht die Zahl jener, die heuer in Österreich einen Asylantrag stellen (bis Ende Mai waren das 22.300 Menschen), sondern die geringere Zahl jener, deren Asylanträge heuer zum Verfahren zugelassen werden. Nicht angerechnet werden mithin die vielen „Dublin-Fälle“, also die Anträge jener, für deren Asylverfahren theoretisch andere EU-Länder zuständig wären.
Wie Sobotka am Donnerstag vorrechnete, seien zwischen 1. Jänner und 29. Mai 18.950 Asylbewerber zum Verfahren zugelassen worden. 6689 von ihnen kamen noch vor dem Jahreswechsel nach Österreich, 12.261 heuer. Damit war Ende Mai die Hälfte des Maximalwerts von 37.500 neuen Asylverfahren bereits knapp überschritten. Im Kanzleramt stimmte man dieser Rechnungsweise zu. Am Dienstag hatte Kern noch von bisher 11.000 auf die Obergrenze anzurechnenden Asylbewerbern gesprochen.
Da der Zustrom seit Wochen wieder steigt und im Sommer weiter zulegen dürfte, geht Sobotka davon aus, dass die Zahl der heuer zum Asylverfahren zugelassenen Schutzsuchenden spätestens im Herbst den für das Gesamtjahr festgelegten Richtwert sprengt. Seine Schlussfolgerung: „Die Obergrenze wird nicht zu halten sein ohne Gegenmaßnahmen.“
Ginge es nach ihm, sollte deshalb die sogenannte Notfallverordnung, die es erlauben würde, fast alle Migranten und Schutzsuchenden schon an den Grenzen zurückzuweisen, noch vor dem Sommer, spätestens aber Anfang September beschlossen werden. Denn: „Das Ziel der Verordnung ist, die Obergrenze nicht zu erreichen.“Schon mit Blick auf die Rekordarbeitslosigkeit sei klar, dass eine Integration der Flüchtlinge nur gelingen könne, wenn die Zahl der Asylbewerber begrenzt werde. Österreich sei durchaus großzügig, betonte Sobotka. Allein im vergangenen Jahr habe man so viele Schutzsuchende aufgenommen wie 18 andere EU-Staaten zusammen. Derzeit kämen in Österreich auf 1000 Einwohner 10,5 Asylbewerber, in Italien seien es 1,4.
Allerdings bemühe sich Italien neuerdings sehr, entsprechend der EU-Regeln zu handeln und die Neuankömmlinge zu registrieren – was, falls die Asylsuchenden nach Österreich weiterziehen, eine Rückschiebung erleichtert (Dublin-Verfahren). Fatal für Österreich ist die Situation mit den EU-Ländern Ungarn und Griechenland. Von den 22.300 Asylantragstellern des heurigen Jahres waren 12.057 schon in anderen EU-Ländern registriert, darunter gut zwei Drittel in Griechenland (4848) und Ungarn (4367). Die Dublin-Verordnung sieht vor, dass jene Länder für das Asylverfahren zuständig sind, in denen Asylsuchende erstmals EU-Boden betreten bzw. erstmals registriert werden. Deshalb werden bereits Registrierte normalerweise zurückgeschoben – nach einigen Gerichtsurteilen allerdings nicht nach Ungarn und Griechenland. Sobotka: „Kein Mensch versteht, dass in die Türkei abgeschoben werden darf, nicht aber in die EU-Länder Ungarn und Griechenland.“Er reist nun zu Verhandlungen nach Ungarn und will auf EU-Ebene erreichen, dass die Dublin-Regeln wieder für alle gelten.
Die derzeitige Situation führt jedenfalls dazu, dass faktisch auch alle ungarischen und griechischen „Dublin-Fälle“in Österreich behandelt werden müssen – und spätestens dann auf die Obergrenze drücken.
Bundeskanzler Kern versicherte am Donnerstag, die Obergrenze von 37.500 sei „auf Punkt und Beistrich“einzuhalten. So eilig mit der Notfallverordnung wie Sobotka hat er es aber offenbar nicht: Er sei „kein Freund davon, einen Notstand zu konstruieren, wo keiner vorliegt“, sagte Kern in seiner Antrittsrede im Bundesrat. Den wackelnden Deal der EU mit der Türkei verteidigte er. Sich von ihm abzuwenden wäre ein „fataler Fehler“.