Versöhnung müssen Türken und Armenier selbst schaffen
So deutlich stand der Deutsche Bundestag noch nie hinter einem Antrag. CDU/CSU, SPD und Grüne hatten sich darauf verständigt, die Vertreibung und Vernichtung von etwa 1,5 Millionen Armeniern in den Jahren 1915/16 durch die damalige Jungtürkische Regierung als Völkermord zu geißeln. Es gab am Donnerstag nur eine Gegenstimme und eine Stimmenthaltung. Zuvor hatte es Demonstrationen gegen die Resolution gegeben. Auch hatten viele Abgeordnete Mails mit Drohungen erhalten.
Grünen-Chef Cem Özdemir sagte in der Aussprache, dass es bei der Aufarbeitung auch um ein Stück deutscher Geschichte gehe. Ausdrücklich bekennt sich der Bundestag zur deutschen Mitschuld. Das Deutsche Reich war Hauptverbündeter des Osmanischen Reiches und über Vertreibung und Vernichtung der Armenier durchaus im Bilde. Deshalb dürfe man aber heute nicht zum Komplizen der Leugner dieses Völkermordes werden, betonte Özdemir. Schon 2015 wollten die Grünen über einen solchen Antrag abstimmen lassen. Der wurde dann aber aus außenpolitischen Gründen zurückgezogen. Nun hätte Berlin immer noch Grund genug, Rücksicht auf die Türkei zu nehmen. Schließlich könnte die Türkei das Flüchtlingsabkommen mit der EU platzen lassen.
So ließe sich die Tatsache, dass weder Bundeskanzlerin Angela Merkel noch Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) noch Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) an der Abstimmung teilnahmen, als Indiz dafür lesen, dass man die Bedeutung der Abstimmung für die bilateralen Beziehungen nicht überbewerten will. In der Resolution kommt zwar eindeutig das für Ankara nicht akzeptable Wort „Völkermord“vor. Gleichzeitig aber soll die Resolution auch zur Verständigung zwischen der Türkei und Armenien beitragen. Die Türkei solle nicht auf die Anklagebank gesetzt werden, versicherte Unions-Fraktionsvize Franz Josef Jung.
Die Türkei reagierte postwendend mit der vorübergehenden Abberufung ihres Botschafters aus Berlin. Gleichzeitig wurde der deutsche Botschafter in Ankara ins türkische Außenministerium einbestellt. In Berlin fragt man sich nun, wie weit Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Bruch treiben will. Der Staatschef hatte erklärt, die Anerkennung der Massaker an den Armeniern als Genozid würde das Verhältnis beider Länder auf „diplomatischer, wirtschaftlicher, geschäftlicher, politischer und militärischer Ebene“beschädigen.
Schon vor Tagen hatte Ömer Çelik von der Regierungspartei AKP erklärt, dass die EU für die Türkei zwar wichtig, aber nicht alternativlos sei. Im Gegenzug für das Flüchtlingsabkommen erwartet die Türkei Reisefreizügigkeit für ihre Bürger in der EU. Die EU wiederum pocht, bevor sie einer solchen Visaliberalisierung zustimmt, auf die dafür übliche Erfüllung von 72 Punkten, insbesondere was die Meinungsfreiheit anbelangt. Aus diesem Grund soll die Türkei ihre AntiTerror-Gesetze ändern, die vielfach zum Hebel für rigoroses Vorgehen gegen unliebsame Kritiker werden.
In Ankara gibt man sich völlig verschnupft: Premier Binali Yildirim gab die Abberufung des Botschafters kurz nach dem Votum des Bundestages persönlich bekannt. Die Türkei könne stolz auf ihre Geschichte sein, sagte der Regierungschef. Es gebe „kein Ereignis in unserer Vergangenheit, das uns dazu bringen könnte, uns in Scham zu beugen“. Für die Entscheidung des Bundestages sei eine „rassistische armenische Lobby“verantwortlich, sagte Yildirim. Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu warf dem Bundestag vor, er wolle von den „dunklen Seiten der eigenen Geschichte“ablenken, indem „andere Länder angeschwärzt werden“. Regierungssprecher Numan Kurtulmuş bezeichnete die Resolution im Kurznachrichtendienst Twitter als „null und nichtig“. Sie enthalte „verzerrte und haltlose Unterstellungen“und sei somit ein „historischer Fehler“.
Als die französische Nationalversammlung 2011 ein Gesetz verabschiedete, das die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern unter Strafe stellte, reagierte die Türkei mit Wirtschaftssanktionen. Außerdem durften Militärflugzeuge des NATO-Partners Frankreich nicht mehr in der Türkei landen. Natürlich gibt es jetzt wie erwartet empörte Reaktionen von türkischer Seite. Natürlich strapaziert der Dissens in der Armenierfrage die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei weiter. Doch geht es hier weder um eine Anklage gegen die heutige Türkei noch um eine Verknüpfung mit aktuellen politischen Streitthemen.
Der Deutsche Bundestag hat jetzt wie andere westliche Parlamente vor ihm die Ereignisse vor hundert Jahren im Osmanischen Reich bewertet. Er folgt dabei der von vielen Wissenschaftern gut dokumentierten These, dass die damals an den Armeniern verübten Massaker den Tatbestand des Völkermor- des erfüllen. Es ist das Recht der Parlamentarier, so zu urteilen, und es ist auch richtig so. Ohne klares Bekenntnis zur historischen Wahrheit kann es keinen Weg in eine bessere Zukunft geben. Daher benennt die Resolution des Bundestages die deutsche Mitschuld an den Massakern damals. Eine kritische Diskussion darüber, ob auch die Verbrechen gegen das HereroVolk in Namibia als Völkermord einzustufen sind, müsste folgen.
Leider ist angesichts des nationalistisch aufgeheizten Klimas in der Türkei nicht zu erwarten, dass Ankara demnächst eine ehrliche Debatte über die historischen Fakten führt. Dabei hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan selbst einmal erste Schritte einer Annäherung an Armenien getan. Ohne gemeinsame Aufarbeitung des Grauens vor hundert Jahren aber kann es keine Verständigung heute geben.