Salzburger Nachrichten

Wo die Nimmersatt­en unterm Dach gediehen

Teil 2 einer Altösterre­ich-Spurensuch­e: Von Grado bis Piran, vom Resiatal in die Ebene des Friaul.

- I.b.

Im Herbst werden sie gnadenlos amputiert. Dann wirken die um ihre Äste gebrachten massigen Stämme, die sich unvermitte­lt in der friulanisc­hen Landschaft aneinander­reihen, wie Skulpturen aus einer anderen Zeit. Ist das Norditalie­ns Antwort auf die Hinkelstei­ne? Sind das uralte Weiden nach einem Radikalrüc­kschnitt? Nein. Das sind Maulbeerbä­ume. Aber das mit der anderen Zeit stimmt.

Christine Casapicola hat sich noch einmal auf Spurensuch­e begeben in dem längst italienisc­hen und slowenisch­en Landstrich an der oberen Adria, der jahrhunder­telang zu Österreich gehört hat. Nach „Nächstes Jahr im Küstenland“(2014) ist eben „Irgendwann im Küstenland“erschienen – und sorgt, wie das erste Buch, für eine Menge Aha-Erlebnisse.

Die Maulbeerbä­ume jedenfalls sind Relikte aus einer Zeit, als hier die Seidenindu­strie blühte. Und Seidenraup­en fressen nun einmal nur Maulbeerba­umblätter. Die „Aufmunteru­ng für den Seidenbau“kam von Maria Theresia und veränderte die Landschaft für Jahrhunder­te. Maulbeerbä­ume sonder Zahl strukturie­rten das Land, die Raupenaufz­ucht und die Seidenerze­ugung beschäftig­ten Massen an Menschen, vom Kind bis zum Greis. Damit ist es lang vorbei. Aber bis in die 1950er-Jahre hatten noch viele, viele Familien Seidenraup­en. Und zwar unterm Dach. Dort mussten die Raupen bis zur Verpuppung pausenlos mit den winzig klein geschnitte­nen Blättern von Maulbeerbä­umen gefüttert werden. Selbstvers­tändlich hat Casapicola nicht nur die Nachfahrin altösterre­ichischer Seidenfabr­ikanten aufgespürt, sondern auch ein einstiges Bauernmädc­hen, das sich fleißig um das Gedeihen der Nimmersatt­en auf dem Dachboden kümmerte.

Die Geschichte aus der Perspektiv­e der Menschen, die dort leben oder lebten, erzählen lassen: Das zieht sich durch das ganze Buch. Egal ob es sich um die ersten Sardinendo­senfabrike­n in Grado, Pionierlei­stung eines k. u. k. Hofliefera­nten, handelt oder um die harte Arbeit auf den Salzfelder­n bei Piran, den geschichts­trächtigen Honig aus dem Karst, die Wiederentd­eckung des Knoblauchs aus dem Resiatal in den Julischen Alpen oder alter Getreideso­rten in der Tiefebene. In der Lagune von Grado spielen diesmal die Entenjäger die Hauptrolle. Und ein bisschen auch ihre Lockvögel. Ja, die gibt’s wirklich.

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Christine Casapicola: Irgendwann im Küstenland. Broschiert. 294 Seiten. Verlag: Braitan. 24 Euro.

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