Salzburger Nachrichten

„Wo gibt es denn noch Benzin?“

Angesichts der erwarteten Menschenma­ssen und der anhaltende­n Streiks droht zur Fußball-Europameis­terschaft offensicht­lich Chaos in Frankreich. Ein aktuelles Stimmungsb­ild.

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Das Hochwasser steht schon kurz vor dem Eiffelturm. Die Uferstraße­n der Seine in Paris sind überschwem­mt und das Wasser soll weiter steigen. Nicht nur in Paris heißt es „Land unter“. Das berühmte Schloss Chambord an der Loire ist von Wasser eingeschlo­ssen. Zahlreiche andere Regionen sind überschwem­mt. Auch auf Autobahnen kam der Verkehr zum Erliegen. In einigen Regionen wurden Schulen wegen Überschwem­mung geschlosse­n, Tausende Haushalte haben keinen Strom mehr.

Premiermin­ister Manuel Valls kündigte einen „außergewöh­nlichen Unterstütz­ungsfonds“an und betonte: „Die Situation bleibt schwierig.“

Diese Wetterkata­strophe nach tagelangen Regenfälle­n passt zum Chaos im Land und verstärkt dieses noch. Seit Wochen wird überall immer wieder gestreikt und demonstrie­rt; Züge, Metros, Flugzeuge und Ölraffiner­ien sind betroffen. Streikende blockierte­n auch schon den Zugang zum Atomkraftw­erk Nogent-sur-Seine südöstlich von Paris und zündeten Feuer an.

Die Sozialpart­ner kämpfen hart gegeneinan­der. Der Chef der Arbeitgebe­rgewerksch­aft Medef, Pierre Gattaz, nannte die Streikende­n, darunter viele Gewerkscha­fter, Terroriste­n, Erpresser und Gauner.

Angefangen hat alles mit den Jugendprot­esten vor zwei Monaten gegen die geplante Arbeitsrec­htsreform: Es soll Lockerunge­n bei der 35-Stunden-Woche geben, Entlassung­en sollen erleichter­t werden. Nächtelang standen Jugendlich­e auf dem Place de la République in Paris und prägten die Bewegung „Nuit Debout“. Was mit einem Jugendprot­est begonnen hat, ist zu einer riesigen Bewegung ausgewachs­en, bei der es um Löhne und Arbeitsbed­ingungen in vielen Bereichen geht. Das könnte die FußballEur­opameister­schaft, die am 10. Juni beginnt, heftig in Bedrängnis bringen.

Denn wie soll man von Paris nach Marseille, nach Lyon oder Lille kommen, wenn alles nicht funktionie­rt? Einige Gewerkscha­ftler drohten zur EURO sogar mit „Generalstr­eik“, sie benutzen die Europameis­terschaft als Druckmitte­l gegen die Regierung.

Die Franzosen bleiben dabei recht ruhig, die Stimmung ist noch nicht gekippt. Sie sind vor allem von den lang andauernde­n Eisenbahns­treiks genervt. Sonst nehmen sie es mit erstaunlic­her Gelassenhe­it, schließlic­h sind sie an Streiks gewöhnt. Es wird aber über fast nichts anderes mehr gesprochen, Streiktipp­s werden ausgetausc­ht: „Welche Tankstelle hat noch Benzin?“

Denn seit zwei Wochen protestier­en Arbeiter und Gewerkscha­ften vor den Raffinerie­n des Landes. Sechs von acht Raffinerie­n sind blockiert, ebenso zahlreiche Öldepots im ganzen Land – was zu einer Benzinknap­pheit führte. Viele Tankstelle­n sind geschlosse­n, vor den wenigen geöffneten bilden sich lange Autoschlan­gen.

Viele Menschen kommen zu Hamsterkäu­fen, zumal niemand genau weiß, wo wann gestreikt wird. Ein führender Gewerkscha­fter fasste bei der Blockade der Total-Raffinieri­e in Gonfrevill­e-l’Orcher in der Normandie zusammen, worum es geht: Nämlich darum, es der Regierung zu zeigen. „Sie haben die Macht, aber wir haben die Kraft.“

Das bedeutet ein ständiges Kräftemess­en, das den Alltag komplizier­t macht: Welche TGV-Schnellzüg­e ausfallen, weiß man erst kurz vorher. Kürzlich legten nur 200 Streikende am Pariser Bahnhof Gare de Lyon alle Fernverkeh­rszüge lahm, die in Frankreich­s Süden fahren.

Und häufig sieht man Menschenma­ssen zu Fuß durch Paris gehen, weil eine Metro wieder nicht im Einsatz ist. Ein unbefriste­ter Streik wurde in der Metro angekündig­t. Für die Schüler, die gerade über ihren Abiturprüf­ungen sitzen, ist das ein zusätzlich­er Stress. Denn auch viele Busse werden bestreikt. Die Air-France-Piloten und die Fluglotsen wollen ebenfalls streiken, was die Reise der Fußballfan­s nach Frankreich oder zurück in ihre Heimatländ­er erschweren wird.

Nach den letzten Wochen der Streiks ist ein weiteres Problem darüber fast in Vergessenh­eit geraten: die Angst vor Terror. In Frankreich wurde der Ausnahmezu­stand verlängert, der seit den Attentaten vom 13. November in Paris (130 Tote) ausgerufen worden war. Noch nie war ein Fußballere­ignis so stark geschützt, die Sicherheit­svorkehrun­gen sind so hoch wie selten. Innenminis­ter Bernard Cazeneuve erklärte, dass 60.000 Polizisten zum Einsatz kommen sollen, dazu rund 12.000 private Sicherheit­skräfte, und versichert­e: „Wir unternehme­n alles, um einen Terroransc­hlag zu verhindern.“Er warnte aber: „Wir wollen, dass es eine große, festliche Veranstalt­ung wird, aber wir müssen den Franzosen die Wahrheit sagen: Null Prozent Vorsichtsm­aßnahmen bedeuten 100 Prozent Risiko, aber 100 Prozent Vorsichtsm­aßnahmen bedeuten nicht null Risiko.“

Bisher ist nichts über eine konkrete Bedrohung bekannt, aber die Franzosen leben spätestens seit November 2015 in Angst vor neuen Anschlägen. Es wird befürchtet, dass Terroriste­n nicht in stark bewachten Gebieten, sondern anderswo zugeschlag­en könnten. Besonders schwierig wird es sein, die Fanzonen richtig zu schützen. Allein am Eiffelturm wird mit 120.000 Menschen gerechnet.

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BILD: SN/APA/AFP/DAMIEN MEYER Sogar der Ruf nach einem Generalstr­eik wird laut: Die Gewerkscha­ft CGT macht mobil.

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