Die politische Welt vor 100 Jahren
1916 sollte der Pöbel nicht viel mitreden. Im Landtag saßen lauter gut situierte Männer. Livestream war noch genauso weit weg wie die Grünen. Aber nicht alles hat sich geändert.
Salzburg feiert heuer die 200-jährige Zugehörigkeit zu Österreich. Ein Anlass, der schon 1916 standesgemäß begangen wurde. Damals freilich sah die Politik in Salzburg ganz anders aus. Und trotzdem lassen sich überraschend Parallelen zwischen einst und heute ziehen. Schon vor 100 Jahren nach einer Festsitzung im Chiemseehof reiste eine Delegation von Salzburg nach Wien, um dem Kaiser zu huldigen, wie es in den Archi- ven geschrieben steht. Der Kaiser empfing die Salzburger zwar nicht eigens. Einige höhere Minister und „würdige Herren“waren aber doch zugegen. Mit Augenzwinkern könnte man sagen: fast so wie heute.
Die Zusammensetzung des Landtags war damals hingegen eine völlig andere. Es war ein Elitenprojekt, das so wie die derzeitige oberösterreichische Landesregierung ganz ohne Frauen auskam. Im Landtag saßen 39 Männer – hauptsächlich Großgrundbesitzer, Kaufleute, Bauern, Kleriker, Wirte, Beamte, Anwälte und Notare. Der Erzbischof gehörte Kraft seiner Funktion auch zum Landtag. Die Abgeordneten wurden nach einem Kurien- und Zensuswahlrecht gewählt. Voraussetzung war, dass man zu einem bestimmten Stand gehörte, quasi zu den oberen 10.000. Die Steuerleistung spielte nämlich eine erhebliche Rolle, ob man wahlberechtigt war oder nicht.
Als 1909 bei der Landtagswahl auf Reichsebene schon das allgemeine Wahlrecht für Männer galt, führte Salzburg quasi als Reaktion für „den Rest“eine vierte Wählerkurie ein. Die Machtverhältnisse waren mit dem Wahlrecht eindeutig festgelegt: Denn für ein Mandat in der Kurie des Großgrundbesitzes waren 127 Stimmen ausreichend. Wählte aber die vierte Wählerklasse ein Flachgauer Mandat, dann brauchte es fast 7000 Stimmen.
Damals wollte man eher nicht, dass das „Fußvolk“bei den politischen Entscheidungen mitsprach und zu viel hineinpfusch-
te. Heute wiederum hat die Politik ein ganz anderes Problem: die steigende Politikverdrossenheit und das Abwenden der Wahlberechtigten von den arrivierten Parteien. Die regionalen Parlamente kämpfen darum, dass sich wieder mehr Menschen für die Demokratie interessieren und Demokratie leben. Sitzungen sind längst öffentlich, ja sogar über Livestream im Internet nachverfolgbar.
Landtagspräsidentin Brigitta Pallauf (ÖVP): „Diese Distanz, die dieses alte Foto da ausstrahlt, die haben wir bei Gott nicht mehr. Heute wollen wir mit Bürgerbeteiligungsmodellen die Menschen verstärkt einbinden. Der große Unterschied zu damals ist aber, dass jetzt Salzburgerinnen und Salzburger aus allen Regionen im Landtag sitzen. Der Landtag ist sicher repräsentativ.“
Heute sitzen dort Bauern, Gewerkschafter, Hoteliers, Tischler, Geschäftsführer, Lehrer, Mechaniker, Beamte, ein Arzt, Studenten, Bürgermeister, Psychologen. Mehr als ein Drittel der Abgeordneten sind weiblich. Wobei die erste Frau 1919 in den Landtag einzog, kurz nachdem Frauen erstmals wählen durften. Das Privilegienwahlrecht ist einer Verhältniswahl gewichen. Der Erzbischof sitzt zwar noch in Schlagdistanz zum Chiemseehof am Kapitelplatz. Im Landtag hat er aber keine Stimme mehr.
Wenn Sie jetzt noch das Wahlergebnis von 1909 wissen wollen: Die Grünen existierten noch lange nicht. 21 der 39 Sitze gingen an die christlichsoziale Partei, quasi die ÖVP, zwei an die Sozialdemokraten und 15 an die deutschfreiheitliche Partei, die sich damals immer wieder umbenannte, weil parteiintern die Fetzen geflogen sein sollen. Insofern hat sich in 100 Jahren nicht alles komplett geändert.
„Heute wollen wir die Bürger stärker einbinden.“Brigitta Pallauf, Landtagspräsidentin, ÖVP