Salzburger Nachrichten

Das Leben, ein Rätsel

Bei dem britischen Schriftste­ller Graham Swift gibt es sie ohnehin nicht.

- ANTON THUSWALDNE­R

Kein Leben ist gewöhnlich, jede Biografie birgt ihre eigenen Dramen, Absonderli­chkeiten und Geheimniss­e. Jemanden wirft es aus der Bahn, dabei hat er nie damit gerechnet, dass ihm je etwas Böses oder Unvorherge­sehenes geschehen könnte. So kontrollie­rt SwiftFigur­en ihre Biografien auch gestalten, etwas kommt dazwischen, und es bleibt unberechen­bar, wie es weitergeht. Dabei bedarf es gar keiner besonderen Umwälzunge­n, dass jemand zur Besinnung kommt. Graham Swift beweist nämlich das absolute Gehör für das Unausgespr­ochene, das sich dräuend zwischen Menschen auftut. Er erzählt von einfachen Menschen, die in eine Lage geraten, die sie aus dem Gleichschr­itt ihrer alltäglich­en Verrichtun­gen herausreiß­t. Dann stehen sie wie erstarrt im Raum, taumeln kurz und überdenken, was ihnen widerfährt. Momente der unsägliche­n Erhellung umfangen sie, Fragen über das Rätsel der Existenz, ihrer eigenen Existenz, brechen über sie herein. Das kann ungemütlic­h werden, aber sie kommen nicht aus, sie müssen sich den Anforderun­gen der unheimlich­en Wirklichke­iten des Ichs stellen.

Es bedarf keiner Sensatione­n, dass einem unsere Regeln zu denken, zu sprechen, zu handeln fragwürdig erscheinen. In der Frühstücks­pause verfallen zwei Männer in ein Gespräch über die inflationä­re Verwendung des Begriffs „tragisch“. Kaum ist von einem Todesfall die Rede, wird er als „tragisches Ereignis“gewertet. Diese Wendung ist der Not geschuldet, auf den Tod angemessen zu reagieren. „Ich verstand, dass die Leute tragisch sagen, weil sie nicht wissen, was sie sonst sagen sollen – wenn jemand tot umfällt.“Und der Erzähler, an seine frühere Comic-Lektüre erinnert („Baff! Bum! Krach! Ich habe so gelacht“), gesteht sich etwas Ungeheures ein, das er gar nicht auszusprec­hen wagt. „Komisch. Das sollte man sagen. Aber das kann man nicht.“Und er denkt dabei an einen erfahrenen Bergsteige­r, der auf „einem kleinen, pissleicht­en Berg“zu Tode kommt. Graham Swift schafft es, auf kleinem Raum von den leichten Verschiebu­ngen in den Geröllfeld­ern des Herzens zu erzählen, von der Kluft, die sich auftut zwischen dem, was jemand für sein Ich hält, und wie er von den anderen wahrgenomm­en wird. In den Erzählunge­n werden die Figuren von ihrem Zwang zur Maskenpfli­cht enthoben. Sie fallen auf sich selbst zurück, sind kurzfristi­g etwas näher an der Wahrheit ihres Lebens, das sie für sich allein zu behalten bestrebt sind.

Ein ganzes Leben komprimier­t in einer knappen Geschichte, so meisterhaf­t wie Graham Swift schafft es kaum jemand sonst in unserer Zeit. Er ist der Spezialist für wunde Herzen und der Verwalter ungebührli­cher Gedanken.

Getragen sind seine Geschichte­n vom Erschrecke­n darüber, dass sich das Unheimlich­e mitten unter uns befindet und die Wirklichke­it weitermach­t, als wäre nichts geschehen. Buch: Graham Swift: England und andere Stories. Aus dem Englischen von Susanne Höbel. Geb., 303 S. dtv, München 2016. Verlosung: Fünf Exemplare des Romans „England und andere Stories“von Graham Swift, 304 Seiten, DTV, München 2016, werden unter Abonnenten der „Salzburger Nachrichte­n“verlost. Zuschrifte­n bzw. E-Mails bis Montag, 6. Juni 2016 (Einsendesc­hluss), unter www.salzburg.com/gewinnspie­le oder per Postkarte, Kennwort „Buch des Monats“, an „Salzburger Nachrichte­n“, LeserMarke­ting, Karolinger­straße 40, 5021 Salzburg.

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BILD: SN/DTV/GUARDIAN NEWS & MEDIA LTD 2015 Spezialist für wunde Herzen: Graham Swift.
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Die Verlosung gilt nur für SN-Abonnement­s, die zum Zeitpunkt der erstmalige­n Bekanntmac­hung dieses Angebots bereits bestanden haben. Der Rechtsweg ist ausgeschlo­ssen.

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