Das Leben, ein Rätsel
Bei dem britischen Schriftsteller Graham Swift gibt es sie ohnehin nicht.
Kein Leben ist gewöhnlich, jede Biografie birgt ihre eigenen Dramen, Absonderlichkeiten und Geheimnisse. Jemanden wirft es aus der Bahn, dabei hat er nie damit gerechnet, dass ihm je etwas Böses oder Unvorhergesehenes geschehen könnte. So kontrolliert SwiftFiguren ihre Biografien auch gestalten, etwas kommt dazwischen, und es bleibt unberechenbar, wie es weitergeht. Dabei bedarf es gar keiner besonderen Umwälzungen, dass jemand zur Besinnung kommt. Graham Swift beweist nämlich das absolute Gehör für das Unausgesprochene, das sich dräuend zwischen Menschen auftut. Er erzählt von einfachen Menschen, die in eine Lage geraten, die sie aus dem Gleichschritt ihrer alltäglichen Verrichtungen herausreißt. Dann stehen sie wie erstarrt im Raum, taumeln kurz und überdenken, was ihnen widerfährt. Momente der unsäglichen Erhellung umfangen sie, Fragen über das Rätsel der Existenz, ihrer eigenen Existenz, brechen über sie herein. Das kann ungemütlich werden, aber sie kommen nicht aus, sie müssen sich den Anforderungen der unheimlichen Wirklichkeiten des Ichs stellen.
Es bedarf keiner Sensationen, dass einem unsere Regeln zu denken, zu sprechen, zu handeln fragwürdig erscheinen. In der Frühstückspause verfallen zwei Männer in ein Gespräch über die inflationäre Verwendung des Begriffs „tragisch“. Kaum ist von einem Todesfall die Rede, wird er als „tragisches Ereignis“gewertet. Diese Wendung ist der Not geschuldet, auf den Tod angemessen zu reagieren. „Ich verstand, dass die Leute tragisch sagen, weil sie nicht wissen, was sie sonst sagen sollen – wenn jemand tot umfällt.“Und der Erzähler, an seine frühere Comic-Lektüre erinnert („Baff! Bum! Krach! Ich habe so gelacht“), gesteht sich etwas Ungeheures ein, das er gar nicht auszusprechen wagt. „Komisch. Das sollte man sagen. Aber das kann man nicht.“Und er denkt dabei an einen erfahrenen Bergsteiger, der auf „einem kleinen, pissleichten Berg“zu Tode kommt. Graham Swift schafft es, auf kleinem Raum von den leichten Verschiebungen in den Geröllfeldern des Herzens zu erzählen, von der Kluft, die sich auftut zwischen dem, was jemand für sein Ich hält, und wie er von den anderen wahrgenommen wird. In den Erzählungen werden die Figuren von ihrem Zwang zur Maskenpflicht enthoben. Sie fallen auf sich selbst zurück, sind kurzfristig etwas näher an der Wahrheit ihres Lebens, das sie für sich allein zu behalten bestrebt sind.
Ein ganzes Leben komprimiert in einer knappen Geschichte, so meisterhaft wie Graham Swift schafft es kaum jemand sonst in unserer Zeit. Er ist der Spezialist für wunde Herzen und der Verwalter ungebührlicher Gedanken.
Getragen sind seine Geschichten vom Erschrecken darüber, dass sich das Unheimliche mitten unter uns befindet und die Wirklichkeit weitermacht, als wäre nichts geschehen. Buch: Graham Swift: England und andere Stories. Aus dem Englischen von Susanne Höbel. Geb., 303 S. dtv, München 2016. Verlosung: Fünf Exemplare des Romans „England und andere Stories“von Graham Swift, 304 Seiten, DTV, München 2016, werden unter Abonnenten der „Salzburger Nachrichten“verlost. Zuschriften bzw. E-Mails bis Montag, 6. Juni 2016 (Einsendeschluss), unter www.salzburg.com/gewinnspiele oder per Postkarte, Kennwort „Buch des Monats“, an „Salzburger Nachrichten“, LeserMarketing, Karolingerstraße 40, 5021 Salzburg.