Salzburger Nachrichten

Mit Sir Paul in den Himmel schauen

Die Pilgerfahr­t ins Münchner Olympiasta­dion zur Großen Nachtmusik des Paul McCartney wurde zur großen Familienfe­ier.

- Leibhaftig: Paul McCartney, eine Musikikone.

„Euer Hochwohlge­boren, wo amüsiert Er sich heut’?“– „Bei Wolfgang Amadé Mozart.“– „Was gibt man denn?“– „Die Kleine Nachtmusik.“– „Mon Dieu, schon wieder? Das hat Er ja schon 1000 Mal gehört. Dieser Mozart ist ein Filou!“– „Ganz recht, Durchlauch­t, aber wer weiß, wie oft wir ihn noch hören und sehen werden! Er ist ein Genius, von dem sich noch unsere Kindeskind­er erzählen werden!“

Dieses Gespräch ist weder historisch belegt noch faktenmäßi­g richtig. Wolfgang Amadeus hat einen seiner größten Hits nie „live“präsentier­t, aber Sir Paul McCartney spielt sein Lebenslied „Yesterday“nach Abertausen­den Aufführung­en bis zum heutigen Tag bei all seinen Konzerten. Gnade ihm der Höchste, wenn er es nicht täte!

Genie Mozart und Genie McCartney: beide Superstars. Sozusagen in allen Gassen. Manchmal überdrüber, nicht selten in Überdosis. Mozart kann man nur mehr nachfühlen, McCartney ist leibhaftig hier. Das ist die Motivation dafür, dass Millionen Menschen auf der ganzen Welt bis zum heutigen Tag keine Kosten und Mühen für eine Begegnung mit diesem Superstar des Pop und Rock scheuen. Sie kennen seine Songs in- und auswendig, aber darum geht es nicht mehr. Es ist eine Pilgerfahr­t. „Paul“, wie sie ihn nennen, hat den Soundtrack ihres Lebens geschriebe­n. Er ist für sie eine Ikone.

Friedrich Gulda hat mitunter geweint, wenn er bloß von Mozarts Klavierkon­zerten sprach. Im Münchner Olympiasta­dion, wohin Paul McCartney am Freitag seine neue Welttourne­e „One On One“führt (39 Konzerte quer durch die Kontinente), gibt es Besucher, denen beim Mitsingen des Refrains des alten Beatles-Hits „Hey Jude“die Tränen in den Augen stehen: So viel Persönlich­es schwingt da mit. Und 60 Jahre Musikgesch­ichte. Songs, die Teil der Welt, ihrer Welt, geworden sind.

Viele, die ins Stadion gepilgert sind, denken vielleicht auch pragmatisc­h: Er wird heuer 74 Jahre alt – wie oft wird man ihn noch live hören und sehen können? Immerhin hat es zehn Jahre gedauert, bis Sir Paul wieder nach München kam. Wir werden ja alle mit ihm älter.

Mag sein, dass McCartney selbst auch pragmatisc­h denkt: Denn nur Stunden, nachdem im Olympiasta­dion der letzte Ton verklungen, das letzte Feuerwerk verglüht ist, erscheint die 4-CD/Vinyl-Box „Pure McCartney“auf dem Markt: Eine Sammlung von 67 Songs, die der Maestro in der Post-Beatles-Ära aufgenomme­n hat: Solo, mit seiner Band Wings, mit den quasiexper­imentellen Fireman. Stoff gibt es genug, aus 45 Alben, davon 24 als Solokünstl­er, von elf Liveaufnah­men gar nicht zu reden. McCartney hat über 1000 Songs geschriebe­n und ist der erfolgreic­hste Popmusiker aller Zeiten. Allein die Beatles haben über eine Milliarde (!) Tonträger verkauft. Doch Paul McCartney möchte weiter relevant sein.

Und das Konzert? Das Erste, was die Fans an diesem Abend zu hören bekommen, ist der Akkord, der „A Hard Day’s Night“eröffnet. Der Akkord. In der Musikwisse­nschaft gibt es 14 Theorien, wie er zustande kam. Paul hat den Song 51 Jahre lang nicht live gespielt. Den Akkord überlässt er seinem Gitarriste­n Rusty Anderson.

McCartney hat zu Beginn hörbar Probleme, seine Stimme in die Gänge zu bringen. Er weiß natürlich, dass ihn sein Publikum bei den Beatles-Hits (es folgen 23) mit seiner 60er-Jahre-Stimme im Ohr hat. Das ist nicht mehr zu leisten, die Intonation lässt passagenwe­ise ebenso aus wie die Höhe. Er weiß ebenso, dass ihn seine Fans über noch so unsicheres Terrain hinwegtrag­en, ideell, wie alte Freunde. Wenn er seine Rock-’n’-Roll-Stimme einsetzt, ist es oft eine Erlösung.

Aber dann passiert etwas Seltsames: Er greift zur akustische­n Gitarre und eröffnet mit „In Spite of all the Danger“von den Beatles-Vorläufern The Quarrymen aus dem Jahr 1958 ein siebenteil­iges Set. Der Funke springt sofort über, Paul gewinnt hörbar an stimmliche­r Sicherheit, die sich von Song zu Song steigert. „Here Today“, seinem „alten Kumpel“(wie er sagt) John Lennon gewidmet, lässt Brüchigkei­t zur berührende­n Kunstform werden, und bei George Harrisons „Something“(mit Ukulele) müssen auch letzte Zweifler zugeben: Paul ist warmgelauf­en und voll da.

Der Rockexpres­s rollt, bei „Lady Madonna“gibt es Ovationen, „Eleanor Rigby“und Lennons „Benefit for Mr. Kite“klingen authentisc­h, „Back in the USSR“ist ein Hammer, „Let It Be“lässt im weiten Rund die Feuerzeuge funkeln, bei „Live and Let Die“– mit Flammenwer­fern auf der Bühne, Donnerschl­ägen und Feuerwerk – scheint das Stadion abzuheben, wie zu einer Zeitreise in eine andere Rockgalaxi­e. Und dort wartet: „Yesterday“. Edle Patina. Allein das war es, warum sich für viele die Pilgerfahr­t gelohnt hat.

Paul McCartney? Ein Gesamtkuns­twerk. Wo gibt es noch eine lebende Legende wie ihn, der in seinem achten Jahrzehnt fast drei Stunden spielt? So einer muss erst erfunden werden. Bis dahin darf man ihn beim „Lady Madonna“Wort nehmen: „Wonder how you manage to make ends meet.“ CD:

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BILD: SN/APA/AFP/BERTRAND GUAY
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„Pure McCartney“, als 2-CD-Set mit 39 und als 4-CD-Set mit 67 Titeln; Universal.

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