Das Kindsein birgt Pflichten
Wenn Kinder fürs Bild posieren müssen, verlieren sie die harmlose Verspieltheit.
INNSBRUCK. Ein Kindergesicht ist lieb, ein abgebildetes Kindergesicht ist wichtig. In dieser Aussage keimt die Geschichte des Kinderporträts, die zurzeit beim Foto auf dem Bürotisch, beim Bildschirmschoner fürs Tablet oder beim WhatsAppSchnappschuss steht. Diese Geschichte hat allerdings einen dezidierten Anfang. Und von diesem – nebst anderen frühen Phänomenen des Porträts – erzählt das Tiroler Landesmuseum in der Ausstellung „Nur Gesichter?“. Das Fragezeichen dieses Titels passt auch zum Bild des Augsburger Geschwisterpaares – ein frühes Beispiel eines bürgerliches Kinderporträts: Ist da Kindlichkeit gemeint?
Die beiden sind in der Pose eines arrivierten Ehepaares: Sie legt behutsam ihre eine Hand auf seine Schulter, in der anderen hält sie vermutlich einen Apfel, Symbolfrucht für Leben und Fruchtbarkeit. Er überreicht eine Nelke – damals untrügliches Zeichen für Verlobung oder Heirat. Gekleidet sind die zwei Sechs- oder Siebenjährigen gediegen wie ein Patrizierpaar. Die Goldhaube, die der Bub unterm Barett trage, sei typisch für Männerbildnisse der Fugger, erläutert die Kunsthistorikerin Sonja Fabian im Katalog. Spielen die zwei Kleinen nur Ehepaar? Oder verspricht das Mädchen mit festem Blick und treuer Geste dem in ungewisse Ferne blickenden Bruder und vielleicht künftigen Familienoberhaupt unverbrüchliche Schwesterliebe? Und er erwidert’s, indem sein kleiner Finger ihren Daumen berührt, während die Nelke einer anderen gilt?
Vielleicht haben einstige Betrachter die Botschaften aus Kleidung, Pose, Gesten, Blickachsen, Blume und Frucht mühelos verstanden. Heute jedenfalls sind viele dieser Bezüge rätselhaft. Doch auch ohne solche Inhalte wird ein Widerspruch augenfällig: zwischen der infantilen Absichtslosigkeit von Kindern und der massiven Intention dieses Kinderbilds.
Die neuzeitliche Idee, Kinder zu porträtieren, verbreitete sich im selben Milieu wie die Erwachsenenporträts, also in der gesellschaftlichen Elite – erst des Adels, dann des dem Adel nacheifernden hohen Bürgertums. Die Geschichte des Kinderporträts begann aber erst etwa ein Jahrhundert später, wie Sonja Fabian schildert. Mitte des 15. Jahrhunderts tauchten demnach die ersten Kinderporträts in und um italienische Fürstenresidenzen auf. Die Burgunder griffen diese Idee auf – möglicherweise das erste Mal für den sechsjährigen Philipp und die dreijährige Margarete, Sohn und Tochter von Maximilian I. – jenem Habsburger, der Innsbruck zu seiner Residenzstadt erkoren hat.
Über diese Schiene kam das Tiroler Landesmuseum zu dem, was Direktor Wolfgang Meighörner als „großartigen Renaissance-Bestand“bezeichnet, „der in großem Umfang in dieser Ausstellung gezeigt wird“. Ergänzt wird dies um Leihgaben aus Basel, Berlin, Hamburg, London, München, Salzburg und Coburg. Sogar Niclas Reisers Porträt der Maria von Burgund aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien ist auf Besuch in Innsbruck. Zudem bekommen die in ihrer Zeit begehrtesten Porträtisten ihren Auftritt – Jakob Seisenegger, Marx Reichlich, Hans Maler, Bernhard Strigel, Albrecht Dürer, Hans Burgkmair d. Ä., Christoph Amberger und der ältere wie der jüngere Lucas Cranach.
Zurück zu den Kindern: Seit Maximilian I. ließen Herrschende ihre Kinder zu gleichen Zwecken porträtieren wie sich selbst, nämlich um Anspruch auf Macht, Prestige und soziale Geltung zur Schau zu stellen. In diesem Topos der Selbstdarstellung von Eliten wurden Kinder nicht als entzückende, liebe, verspielte Kleine gezeigt, sondern als repräsentative Sprösslinge ihrer Eltern – die Buben als künftige Oberhäupter, die Mädchen als wichtiges Heiratskapital. So erscheinen sonderbar ernste Kleinkönige und in Samt und Goldbrokat gekleidete, mit dicken Perlen behangene Prinzessleins – alle oberwichtig oder gar verantwortungsvoll blickend.
Zwei, drei Jahrzehnte sollte es dauern, bis reiche Bürger dieses Sprösslingmalen dem Adel nachmachten. Sonja Fabian zufolge kommt „das vielleicht überhaupt erste“bürgerliche Kinderporträt aus Salzburg: Dieses Gemälde der drei Kinder von Münzmeister Johann II. Thenn aus 1516 hängt im Frankfurter Städel (dessen Vater war übrigens Erbauer des JohannesSchlössls auf dem Mönchsberg).
Dem Bild vom Kindergesicht voran geht das Bild vom Erwachsenengesicht. Dass frühe Porträts an die Wende von Mittelalter zur Neuzeit hinführen, als nicht mehr Heilige, sondern Irdische dargestellt wurden, als die religiös motivierten Stifterbilder zu autonomen Porträts von Regenten, Adeligen und Patriziern mutierten, wird in der Innsbrucker Ausstellung mit einem Bilderpaar aus Brixen frappierend deutlich: Domherr Gregor Angrer ließ sich 1519 akkurat mit jenem Gesichtsausdruck darstellen, den ein Rheinischer Meister 1470 in der Vera Ikon, also dem Gesicht Christi, gemalt hatte. Auch da kann man rätseln: Ist das anmaßend? Oder theologisch wie philosophisch brillant? Ausstellung: