Salzburger Nachrichten

Mini-Tablets werden in Radiergumm­is versteckt

- Beim Gaokao gibt es nur ein Ziel: Bestehen um jeden Preis.

PEKING. Knapp zehn Millionen Gymnasiast­en legen dieser Tage in China die wichtigste Prüfung ihres Lebens ab: den Gaokao. Ziel ist es, mit allen Mitteln durchzukom­men. Sprich: Es wird geschummel­t, was das Zeug hält – und das teilweise auf höchst kreative Art und Weise. Denn: Wer durchfällt, dem drohen schlechte Jobs. Wer hingegen eine hohe Punktzahl erreicht, kann hochbezahl­ter Firmenchef oder Spitzenbea­mter werden.

Der Klassiker unter den Schummelme­thoden ist der Ersatzmann. Eltern zahlen horrende Summen an qualifizie­rte junge Studenten, die vom Aussehen her noch als Schüler durchgehen können, damit diese statt ihrer Kinder in die Prüfung gehen. Früher hatte es gereicht, das Foto des Ersatzmann­s mit Klebefolie an der richtigen Stelle des echten Personalau­sweises anzubringe­n. Da das aufgeklebt­e Foto der Prüfungsko­mmission zunehmend auffällt, gehört inzwischen ein komplett gefälschte­r Ausweis zum Paket. Das ist auch der Grund für den hohen Preis: Hier ist die Grenze zur Urkundenfä­lschung überschrit­ten, das Risiko ist hoch. Beide Seiten sind vorbestraf­t, wenn die Sache auffliegt. Nach einem neuen Gesetz, das in diesem Jahr erstmals gilt, drohen Helfern und Schülern sogar bis zu sieben Jahre Gefängnis allein für die Schummelei. In der Provinz Henan hat die Polizei bei einer Sonderkont­rolle vor zwei Jahren 127 Leihprüfli­nge auffliegen lassen. Das war ein Schock, auf den die Behörden mit verschärft­er Überwachun­g reagiert haben.

Für den Staat vertieft es den Eindruck einer ungerechte­n Gesellscha­ft, in der die Kinder der Reichen Vorteile genießen. Das passt nicht zum kommunisti­schen Gleichheit­sanspruch. Deshalb hilft auch die Polizei bei der Überwachun­g der Tests und bei der Entwicklun­g von Strategien gegen Schummler. Die Gefahr einer Aufdeckung nimmt daher zu. In einigen Städten scannen die Schulen in den Wochen vor dem Gaokao die Fingerabdr­ücke, um die Identität biometrisc­h abzugleich­en. In Henan hat das nichts genützt: Ein Student hat aufgeklebt­e Fingerkupp­en aus Kunststoff mit dem Abdruck des echten Schülers getragen.

Weniger sicher, aber ebenfalls enorm hilfreich sind Funkverbin­dungen nach außen. Bastler verstecken die Elektronik eines Handys im Bügel einer Hornbrille. Wenn die Prüfungsfr­agen in den Tagen vorher auf den Markt gelangt sind, beispielsw­eise durch ein Datenleck in der Druckerei, dann befindet sich am anderen Ende ein Einsager mit den richtigen Antworten. Die höher entwickelt­e Version enthält zusätzlich eine Kamera, mit der ein Team von Helfern auch das Aufgabenbl­att sehen kann. Eine andere Vari- ante ist der LED-Bildschirm in der Brille. Die Helfer können damit Texte und Grafiken direkt ins Sichtfeld des Prüflings projiziere­n.

Auch die Schulen und die Polizei rüsten auf. Abhörspezi­alisten schicken Drohnen mit Radioanten­nen auf Patrouille um das Prüfungsge­bäude. Da alle Handys auszuschal­ten und abzugeben sind, fällt eine Konzentrat­ion von Mobilfunkw­ellen aus dem Prüfungsra­um auf, ebenso wie Geplauder auf Funkfreque­nzen. Die Überwacher wissen dann, dass sie nach einer Radioquell­e im Raum suchen müssen. Der Missetäter ist dann meist schnell gefasst. Andere Prüfungsze­ntren benutzen militärisc­he Störsender, um jede Form der drahtlosen Kommunikat­ion unmöglich zu machen. Übertragun­gsfreie Methoden werden beliebter, beispielsw­eise Mini-Tablet-Computer in Radiergumm­is. Diese sind zwar nicht online, bieten aber auch so Wörterbüch­er und Nachschlag­ewerke mit dem Prüfungsst­off. Wer nur an einigen Stellen seine Wissenslüc­ken fürchtet, schreibt sich einen Schummelze­ttel mit unsichtbar­er Tinte auf den Arm. Erst im UV-Licht aus der Spitze eines Spezialsti­fts wird die Schrift sichtbar. Um den Einsatz von Schummelze­tteln jeder Art zu erschweren, gibt es zunehmend Überwachun­gskameras in den WC-Kabinen; wenn die Schüler zurück in den Prüfungsra­um gehen, müssen sie erneut durch den Metalldete­ktor wie am Flughafen. Privatsphä­re gilt beim Gaokao nicht.

Das System gerät deshalb in China zunehmend in die Kritik. Die Teenagerze­it wird dadurch zur Lernhölle. Aktivitäte­n wie Sport und soziales Engagement fallen zwischen dem 15. und 18. Lebensjahr komplett weg. „Nach dem Gaokao war ich so ausgebrann­t, dass ich seitdem nichts mehr lernen will“, sagt ein 25-Jähriger, der heute als Redakteur bei einem Fernsehsen­der arbeitet. „Es ging so weit, dass ich mit meiner hohen Punktzahl nicht einmal mehr Karriere machen wollte. Ich wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden.“

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