Eine Aufklärerin mit wundem Herzen erzählt spröde
Marlen Schachinger schreibt Erzählungen, obgleich ihr das einfühlsame, freimütige Erzählen verdächtig ist.
Marlen Schachinger ist eine ambitionierte Erzählerin. In der Kurzform noch mehr als im Roman ist sie jener österreichischen Tradition verpflichtet, die der Sprache und der Form besondere Aufmerksamkeit zuteil werden lässt. Sie kennt ein dramatisches Schicksal, sie erkennt erschreckende Zustände in Gegenwart und Vergangenheit, und schon stößt sie auf Skrupel, diese in Literatur zu übertragen. All ihren Erzählungen – wie jene soeben erschienenen, als „Unzeit“titulierten – ist eine Vorsicht eigen, um verletzten Persönlichkeiten und zerstörten Lebensläufen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie hält ihre Figuren zurück hinter einem Zaun von Abstraktion. Sie schreibt wie unter Benennverbot, sodass sie ihre Figuren umkreist, ohne je vorzustoßen in das Innere der persönlichen Dramen.
Der kubanische Journalist, der sich zu viel herausnimmt und am Wahrheitsanspruch zugrunde geht, die jüdische Wissenschafterin, deren Karriere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgrund ihrer Herkunft unterdrückt wird – so sehen Unheilsgeschichten der Moderne aus. Diese beiden Erzählungen Marlen Schachingers stechen heraus, weil sie auf Nachvollziehbarkeit der Ereignisse angelegt sind. Es hat den Anschein, als wäre Marlen Schachinger das Erzählen bisweilen verdächtig. Sie ist vertraut mit den Methoden der Wissenschaft. Sie vermeidet es, den Figuren zu nahe zu kommen, um nicht durch Gefühle das Nachdenken über Geschichte zu behindern – deshalb die Fußnoten, mit denen der Leser auf den Boden der Tatsachen geholt wird. Wenn von historischen Persönlichkeiten die Rede ist wie im Fall der Kernphysikerin Marietta Blau, versagt sich Schachinger jeden Versuch, Leerstellen der Biografie mit Fantasie zu füllen. Sich in andere einzufühlen oder freimütig eigene Gedanken niederzuschreiben, als hätte sie eine historische Figur selbst entwickelt, liegt Schachinger fern. Das macht die Erzählungen ehrlich, aber auch spröde. Sie sind streng dem Gewissen verpflichtet und machen sich der Geschichtsbeugung aus ästhetischen Gründen oder zum Anheizen der Spannung nicht schuldig.
Den Frieden mit der Welt wird man mit Schachinger-Literatur nicht leichtfertig schließen. Sie ist ein Harmoniekiller als Reaktion darauf, dass Harmonie in der Gesellschaft nicht zu haben ist. „Wenn du Popper liest, dann geht es dir mies“, heißt es in einer Erzählung. Schachinger als Gegengift taugt nicht, sie bestätigt nur den Eindruck, der von Popper kommt. Marlen Schachinger ist eine Aufklärerin mit wundem Herzen. Ihrer Arbeit sieht man das an. Lesung: