Zimmer mit Aussicht
Auch die Bedürfnisse der Urlaubsgäste gehen mit der Zeit.
„Gäste-Internet“stand auf dem Schild einer kleinen Pension, an der ich unlängst vorbeigefahren bin. Vor wenigen Jahren stand da vermutlich noch „Komfort-Zimmer“und vor hundert Jahren „Zimmer mit Aussicht“. Doch wer braucht heute noch ein Zimmer mit Aussicht? Wer schaut denn noch aus dem Fenster und genießt, was er da sieht – wenn er oder sie überhaupt etwas sieht? Denn der Ausblick kann meist ohnehin nicht mit dem mithalten, was man sich vor dem Urlaub an idealisierten Bildern im Internet zusammengegoogelt hat. Das Zimmer mit Aussicht hatte zu dem Zeitpunkt ausgedient, als die Urlauber immer mehr und die schönen Plätzchen immer weniger und damit unerschwinglich wurden. Egal, heute hat man zu Aus-dem-Fensterschaun ohnehin keine Zeit mehr, muss vielmehr live per Facebook seinen Freunden vom fantastischsten Urlaub aller Zeiten berichten. Was man da berichtet, hat man zwar selbst in der Hand, doch dazu muss man erst etwas er- leben. Also: Geheimtipps im Internet suchen, Karten für ein exklusives Abendspektakel online kaufen, einen Tisch im hippsten Restaurant (5 Sterne in der Onlinebewertung, einer im richtigen Leben) reservieren. Dafür war früher die Rezeption zuständig, doch was weiß dieser Einheimische hinter der Theke, was man im Internet nicht kompetenter und detaillierter von Klaus-Dieter aus Hamburg und Svenja aus Stockholm auf diversen Reiseplattformen erfahren kann? Außerdem sind die Damen und Herren Rezeptionisten sicher gerade damit beschäftigt, für Schnäppchenjäger die aktuellen Preise in hunderte Buchungsplattformen einzupflegen, Anfragen per E-Mail zu beantworten und irreführende Onlinebewertungen von Besuchern mit überzogenen Erwartungen richtigzustellen. Und der Hotelgast? Sitzt als InformationsSelbstversorger derweil in seinem Zimmer, freut sich über neidische Kommentare auf Facebook und hofft, auch im nächsten Urlaub ein Zimmer mit Aussicht – auf ein gut funktionierendes „Gäste-Internet“– zu ergattern.