Britanniens Seele ist unergründlich
Wir Kontinentaleuropäer verstehen die Briten genauso wenig wie sie uns. Dennoch wäre es ein großer Schaden, verließen sie die EU.
Wo könnte sich die folgende Szene abspielen? In einem Supermarkt rempelt ein Kunde den anderen aus Unachtsamkeit ziemlich heftig und schmerzhaft an. Und das Opfer entschuldigt sich mindestens ebenso wortreich wie der Rempler. Das gibt es nur in England. Dort erstreckt sich Höflichkeit viel weiter als in Österreich oder Deutschland, wo der Angerempelte im günstigsten Fall indigniert schaut. Der Engländer betrachtet es als verfehlt, dass er in die Privatsphäre des anderen eingedrungen ist, selbst wenn das versehentlich geschehen ist. Kein Wunder also, dass eines der wichtigsten Argumente jener, die das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union hinausführen wollen, die Abwehr des Einflusses von außen auf die britische Lebensart ist. Das Motto „Wir lassen uns doch von Brüssel nichts sagen“ist eines der wichtigsten bei der Entscheidung am 23. Juni über „leave or stay“.
Der britische Nationalcharakter ist uns weitgehend verschlossen. Wer oft nach London reist, sei es geschäftlich oder um das reiche Kulturangebot dort zu nutzen, und glaubt, er kenne England oder gar Großbritannien, der irrt gewaltig. Der Nationalcharakter der Briten ist unter anderem deshalb so schwer zu erfassen und zu verstehen, weil er so gespalten ist. Immerhin besteht das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland aus vier Landesteilen, die in sich jeweils eine nationale Identität haben und in sich selbst teilweise noch einmal gespalten sind. In Nordirland pflegt ein Teil der Bevölkerung das keltische Gälisch wieder verstärkt als Mittel zur Abgrenzung von den Briten. Ähnlich ist es in Wales, wo Walisisch Identität stiftet. Und die Schotten haben sich gerade erst recht knapp entschieden, doch in der Union mit den Engländern zu bleiben, obwohl es durchaus weiterhin Animositäten zwischen „Scots“und „Sassenachs“gibt.
Und doch sind sich wenigstens die Hälfte aller Briten darin einig, dass die Europäische Union bei Weitem nicht die Erfolgsgeschichte ist, die man hier auf dem Kontinent sehen möchte. Sie haben auch keine Notwendigkeit zu beweisen, dass sie gut und integrationsfähig sind, denn das Inselreich hat schon seit Hunderten von Jahren niemanden in der Nachbarschaft provoziert. Sie brauchen die universellen Werte nicht, die Brüssel so manchem Neumitglied oder so manchem Beitrittsbewerber erst noch beibringen muss. Denn die Briten haben diese politischen und gesellschaftlichen Werte seit der Magna Charta – und die legt den Rahmen der Herrschaftsverhältnisse seit dem Jahr 1215 fest. Seit dem Jahr 1066 wurde Britannien nicht mehr erobert und im 20. Jahrhundert stand es immer auf der richtigen Seite.
Die Prinzipien von Demokratie und nationaler Souveränität nehmen die Briten quasi mit der Muttermilch auf. Sie verstehen Politik als Konkurrenz der Ideen und nicht als den koalitionären Konsens, der sich quer durch den Kontinent zieht. Abgeordnete zum Unterhaus sind ihrem Wahlkreis und damit den Wählern verpflichtet und keineswegs der Partei oder deren Führung. Das erklärt auch so manchen Aufstand der Hinterbänkler, der schon etlichen Premierministern das Leben schwer gemacht hat.
Der Ton im Parlament ist rau, der Umgang miteinander pragmatisch. Politische Skandale erfahren auch dank einer rücksichtslosen Presse rasche Aufklärung und noch kein Mandatar hat es geschafft, dem öffentlichen Druck zu widerstehen: Man tritt rechtzeitig zurück, statt sich wie hierzulande monatelang noch über die Runden zu retten, um etwa noch die Voraussetzung für die passende Politikerpension zu schaffen.
Die EU verbinden die meisten Briten mit dem Verlust an Souveränität – und das ist für viele untragbar. Dass Luxemburger Richter den eigenen Richtern Vorschriften machen dürfen, ist ihnen ein Graus. Vorschriften aus Brüssel, die den Handel erleichtern und Konsumenten schützen sollen, erscheinen den Briten meist als unnötige Gängelung. Das schmerzt umso mehr, als die Briten auch dank ihrer kolonialen Vergangenheit umfassend liberal und weltoffen sind und der europäischen Gesellschaft zusätzlich Farbe und Esprit verleihen.
Entscheiden sie am kommenden Donnerstag gegen den Verbleib in der EU, wird uns Kontinentaleuropäern tatsächlich etwas fehlen, ganz abseits von Finanzmarkt und Handelsströmen, von politischer oder militärischer Macht, abgesehen von der wichtigen Drehscheibe, die Europa mit Amerika und Asien verbindet. Dann fehlt ein wichtiges gesellschaftliches und politisches Gegengewicht zur Herrschaft der Bürokraten aus Berlin und Paris.