Das große Zittern in Europas Hauptstadt der Finanzen
Die City of London hat viel zu verlieren. Daher gibt es dort eine klare Mehrheit für den Verbleib in der EU.
Der Gouverneur der Bank of England ist Kanadier. Mark Carney wird also an der Abstimmung über Großbritanniens Verbleib in der Europäischen Union am 23. Juni nicht teilnehmen. Aber er hat eine Meinung und damit hält er nicht hinter dem Berg. Vor rund einem Monat sagte Carney, dass Großbritanniens Wirtschaft bei einem Nein zur EU „möglicherweise in eine Rezession rutschen“und dieses Votum die Finanzmärkte destabilisieren könnte.
Diese Aussagen brachten Carney viel Kritik und sogar Rücktrittsaufforderungen von Anhängern eines EU-Austritts ein. Mit seinen Warnungen ist Carney freilich nicht allein, vor allem in der City of London geht die Angst vor dem Brexit um.
Für das Finanzzentrum der Insel, und unbestritten auch das Europas, stehe am meisten auf dem Spiel, sagen die Verfechter eines Verbleibs in der EU. Als Hauptgrund gilt der Wegfall des „single passport“, der es Finanzinstituten, die in einem EUStaat niedergelassen sind, ermöglicht, ohne weitere Auflagen in der gesamten EU tätig zu sein. Laut einer von der Lobbyingorganisation The City UK in Auftrag gegebenen Studie würden die Aktivitäten der Finanzbranche bis 2020 um 9,5 Prozent zurückgehen. So haben USGroßbanken bereits avisiert, ihre Präsenz in London zu verringern und das Europa-Geschäft in andere Städte zu verlagern. Für das Fondsgeschäft kämen Dublin und Luxemburg infrage, andere Sparten könnten in Frankfurt und Paris landen.
Die Austrittsbefürworter verweisen solche Szenarien ins Reich der Gräuelpropaganda. Dasselbe habe man schon bei Einführung des Euro prophezeit, tatsächlich habe sich London als Europas Finanzzentrum Nummer eins behauptet. Die wahren Konkurrenten säßen auch nicht in Frankfurt oder Paris, sondern in New York, Singapur und Hongkong, sagen die Anhänger des Brexit, daran würde sich auch nichts ändern.
Wie wichtig die City of London für Großbritannien ist, zeigt sich daran, dass sie für rund zwölf Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes steht, rund elf Prozent des gesamten Steueraufkommens werden im Herzen Londons generiert sowie ein Handelsüberschuss von rund 90 Mrd. Euro, der das chronische Leistungsbilanzdefizit Großbritanniens mildert.
Rund 250 ausländische Banken haben einen Sitz in London. Inklusive mit der Finanzbranche verbundenen Dienstleistungen wie Steuerberatern und Anwaltskanzleien sind in der City of London mehr als zwei Millionen Menschen beschäftigt. Sie sehen der Abstimmung am 23. Juni mit einiger Sorge entgegen.
Zu Unrecht, sagen die Brexit-Anhänger, Großbritannien würde Autonomie zurückgewinnen, allem voran über die Regulierung. Das könnte sich als Trugschluss erweisen. Denn um Zugang zur EU zu erhalten, wäre man als Nichtmitglied gezwungen, die Regeln der EU zu übernehmen. Und anders als jetzt könnte Großbritannien bei deren Gestaltung nicht mehr mitreden.
„Ein Nein zur EU könnte die Finanzmärkte destabilisieren.“