Großbritannien vergisst den EU-Streit
Der Mord an der 41-jährigen Abgeordneten und Europa-Befürworterin Jo Cox macht das Land ratlos. Welche Motive hatte der Mörder? Die politischen Kampagnen vor dem Brexit-Referendum sind vorerst ausgesetzt.
Die Trauer ist ganz leise. Und doch ist sie so groß, dass sie ein ganzes Land zum Stillstand bringt. Großbritannien weint, nachdem am Donnerstag die Labour-Abgeordnete Jo Cox auf offener Straße ermordet wurde. Vor dem Westminster-Palast in London legten Tausende Menschen Blumen nieder, genau wie in dem kleinen nordenglischen Städtchen Birstall, in dem die Politikerin niedergeschossen, niedergestochen, niedergetreten wurde. Wenig später war die 41Jährige im Krankenhaus ihren Verletzungen erlegen. Die Flaggen vor dem Regierungsgebäude in der Hauptstadt wehen auf halbmast, Passanten zünden Kerzen an. Mit gebrochenen Stimmen zollen Freunde und Kollegen aller Parteien Jo Cox Anerkennung und loben sowohl den Menschen als auch die Politikerin für „ihr großes Herz und ihre Leidenschaft“.
Der hitzig geführte Wahlkampf nur wenige Tage vor dem Referendum über die Mitgliedschaft des Königreichs in der EU wurde auch am Freitag ausgesetzt. Premier David Cameron und Labour-Chef Jeremy Corbyn reisten nach Birstall. Der Sozialdemokrat verurteilte den Mord als „Anschlag auf die Demokratie“. Eine „Quelle von Hass“habe Cox getötet, sagte Corbyn. Auch Cameron zeigte sich erschüttert und warb für Toleranz: „Wo wir Hass sehen, wo wir Spaltung sehen, wo wir Intoleranz sehen, müssen wir diese zurückdrängen.“Politik spielt in diesen Tagen keine Rolle.
Doch wer ist der 52-Jährige, der kurz nach der Tat festgenommen und als Thomas Mair identifiziert wurde? Unaufhörlich stellten die Medien diese Frage, als würde eine Antwort das Unerklärliche erklären. Immer mehr Details werden über den Mann bekannt, der von Nachbarn als unauffälliger Einzelgänger beschrieben wurde, „der oft einfach nur in seinem Garten sitzt“. Der seit seiner Jugend im selben Haus derselben Sozialbausiedlung wohnte, sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt, kaum Alkohol trank und keine Drogen nahm, wie der Nachbar Stephen Lees erzählt. Er war nett, diskret und zurückgezogen
Laut einer Anti-Rassismus-Organisation hatte er jedoch jahrzehntelang die US-Neonazigruppe National Alliance unterstützt. Medien berichten, dass er früher die Zeitschrift „SA Patriot“abonniert hatte – ein rassistisches Blatt, das von einer Pro-Apartheid-Gruppe herausgegeben worden ist.
Mehrere Augenzeugen wurden bereits am Donnerstag zitiert, nach denen der Angreifer „Britain first“– „Großbritannien zuerst“– gerufen hat, was auf eine politisch motivierte Tat deutet. Britain First ist der Name einer rechtsradikalen Partei. Spekulationen machten die Runde, wonach die Attacke in Verbindung mit Cox’ Engagement für Flüchtlinge oder ihren Wahlkampf für den Verbleib des Landes in der EU stehen könnte.
Scott Mair dagegen betonte, sein Bruder sei „nicht gewalttätig und nicht besonders politisch“gewesen. Dafür kämpfe er mit psychischen Erkrankungen, weshalb er in Behandlung gewesen sei. War er wirklich psychisch krank? Oder zog die Politik der leidenschaftlichen Europäerin Cox seinen Hass auf sich? Die Mutter von zwei kleinen Kindern arbeitete vor ihrer Politkarriere bei der Menschenrechtsorganisation Oxfam, stand an der Spitze der Parlamentariergruppe Friends of Syria, verteidigte Immigration und setzte sich für Flüchtlinge ein.
Am Freitag wurde bekannt, dass Jo Cox bereits im März „bösartige Nachrichten“erhalten habe. Bis die Wahrheit ans Licht kommt, werden wohl noch einige Tage vergehen. Dann sind die Briten auch aufgerufen, über die Zukunft ihres Landes in der Europäischen Union zu entscheiden.
Derzeit aber steht das Land einfach still in seiner Trauer.