Die freie Rede und die Ordnung der Nachrichten
Wenn einer seine Gedanken in fehlerarmem Satzbau bühnengerecht zu formulieren vermag, gerät manch Publikum hierzulande schon in hymnische Begeisterung. Dass „profil“-Herausgeber Christian Rainer vom „Halbgott der freien Rede“schreibt, wirkt aber weniger als Einordnung von Christian Kern, sondern bezeichnet eher das Fan-Phänomen um den neuen Kanzler. Funktionsadäquate Rhetorik ist eine Rarität in der österreichischen Spitzenpolitik.
Dabei sorgt die freie Rede nicht nur für den kleinen Unterschied in der Begeisterungsfähigkeit. Sie entzieht ihren Schöpfer auch der fahrlässigen Wiedergabe. Nur wer dabei war – ob live oder via Mitschnitt, weiß, was wirklich gesagt wurde. Das widerspricht oft den auch im Nachhinein noch kursierenden vorab verbreiteten Redetexten. Die klein gedruckte Klausel „Es gilt das gesprochene Wort“erlangt große Bedeutung, wenn einer redet statt liest.
Daraus entstehen zwei Effekte. Der eine ist der massenhafte Drang, alles per Smartphone zu dokumentieren – vom Selfie mit Promi bis zum Video vom Event. So entstehen mehr Stecknadeln als Grasreste im Heuhaufen. Wenn sich die Menge der Absender der Zahl der Empfänger nähert, muss sogar Google als Suchhilfe versagen. Die andere Folge ist leichter zu bewältigen: In der wahrhaftigen Wiedergabe, was wirklich geschah – statt dessen, was als Propaganda verbreitet wird – liegt die erste Hälfte der neuen alten Chance von Journalismus. Die zweite ist genau das, was ihm die Wüteriche der Social-Media-Plattformen vorwerfen: ordnen, filtern, kanalisieren. Wir sind mehr denn je „overnewsed but underinformed“. Die Sehnsucht nach dem Rettungsring in der Nachrichtenflut wächst. Wer ihn bietet, wird ähnlichen Zulauf ernten wie der freie Redner im Meer der Phrasendrescher. Peter Plaikner