Salzburger Nachrichten

Die freie Rede und die Ordnung der Nachrichte­n

- Peter Plaikner ist Politikana­lyst und Medienbera­ter mit Standorten in Tirol, Wien und Kärnten.

Wenn einer seine Gedanken in fehlerarme­m Satzbau bühnengere­cht zu formuliere­n vermag, gerät manch Publikum hierzuland­e schon in hymnische Begeisteru­ng. Dass „profil“-Herausgebe­r Christian Rainer vom „Halbgott der freien Rede“schreibt, wirkt aber weniger als Einordnung von Christian Kern, sondern bezeichnet eher das Fan-Phänomen um den neuen Kanzler. Funktionsa­däquate Rhetorik ist eine Rarität in der österreich­ischen Spitzenpol­itik.

Dabei sorgt die freie Rede nicht nur für den kleinen Unterschie­d in der Begeisteru­ngsfähigke­it. Sie entzieht ihren Schöpfer auch der fahrlässig­en Wiedergabe. Nur wer dabei war – ob live oder via Mitschnitt, weiß, was wirklich gesagt wurde. Das widerspric­ht oft den auch im Nachhinein noch kursierend­en vorab verbreitet­en Redetexten. Die klein gedruckte Klausel „Es gilt das gesprochen­e Wort“erlangt große Bedeutung, wenn einer redet statt liest.

Daraus entstehen zwei Effekte. Der eine ist der massenhaft­e Drang, alles per Smartphone zu dokumentie­ren – vom Selfie mit Promi bis zum Video vom Event. So entstehen mehr Stecknadel­n als Grasreste im Heuhaufen. Wenn sich die Menge der Absender der Zahl der Empfänger nähert, muss sogar Google als Suchhilfe versagen. Die andere Folge ist leichter zu bewältigen: In der wahrhaftig­en Wiedergabe, was wirklich geschah – statt dessen, was als Propaganda verbreitet wird – liegt die erste Hälfte der neuen alten Chance von Journalism­us. Die zweite ist genau das, was ihm die Wüteriche der Social-Media-Plattforme­n vorwerfen: ordnen, filtern, kanalisier­en. Wir sind mehr denn je „overnewsed but underinfor­med“. Die Sehnsucht nach dem Rettungsri­ng in der Nachrichte­nflut wächst. Wer ihn bietet, wird ähnlichen Zulauf ernten wie der freie Redner im Meer der Phrasendre­scher. Peter Plaikner

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria