Ein Plädoyer für Europa
Die Chefin des Währungsfonds sieht die Europäer gefordert, den EU-Skeptikern und Verlierern des Wandels eine Perspektive zu geben.
WIEN. Als Geschäftsführerin des Internationalen Währungsfonds hat Christine Lagarde die Interessen aller Mitgliedsländer zu vertreten und ergreift für keines Partei. Die gebürtige Französin macht aber keinen Hehl daraus, wie sehr ihr die Entwicklung Europas am Herzen liegt. Ihren Auftritt in Wien, auf Einladung von Finanzminister Hans Jörg Schelling, nutzte Lagarde für eine Lobrede auf die Errungenschaften Europas, aber auch für einen kritischen Blick auf die Herausforderungen, vor denen der Kontinent und die EU stehen. Lagarde nannte die Nachwirkungen der Krise in der Eurozone, die Flüchtlingskrise und das Referendum in Großbritannien, beschränkte sich dabei aber auf die ökonomischen Effekte.
Sie habe Großbritannien stets für seine Offenheit gegenüber anderen Nationalitäten und Kulturen bewundert, sagte Lagarde, „es fällt mir schwer, zu glauben, dass sich diese Haltung in so kurzer Zeit geändert hat“. Die Entscheidung liege bei den Briten, aber es sei klar, dass mit einem Austritt wirtschaftliche Risiken verbunden sind. Großbritannien habe von der EU-Mitgliedschaft profitiert, sagte Lagarde. Durch den Binnenmarkt habe sich der Handel intensiviert und das habe Jobs und Einkommen mit sich gebracht.
Laut Lagarde hat die Mitgliedschaft aber vor allem dazu geführt, dass sich das Vereinigte Königreich zu einer dynamischen und pulsierenden Wirtschaft entwickelt hat. Dazu hätten auch die vielen talentierten und engagierten Migranten aus allen Teilen der Welt und auch aus der EU beigetragen. Das habe zu einer Rekordbeschäftigung bei einer vergleichsweise niedrigen Arbeitslosigkeit (5,4 Prozent) geführt.
Alles in allem habe die Mitgliedschaft in der EU Großbritannien bereichert und zu einem kreativeren Land gemacht. Ungeachtet dessen, dass es wie in jedem Land Menschen gebe, die mit den geänderten Verhältnissen schwer zurechtkommen, sei Großbritanniens Teilnahme an der EU für die große Mehrheit der Bürger eine Erfolgsstory.
Gerne hätte man von Lagarde noch mehr über die Konsequenzen eines Brexit erfahren, „aus Respekt“gegenüber der Donnerstagabend ermordeten britischen Parlamentarierin Jo Cox wollte sie aber keine Fragen dazu beantworten, sagte die IWF-Chefin. Schelling sagte lediglich, er setze darauf, dass „die Briten weise genug sind, um für einen Verbleib in der EU zu stimmen“.
Die Krise in der Eurozone habe die Grenzen europäischer Politik und Institutionen aufgezeigt, sagte Lagarde, die Bewältigung sei daher langsamer und mühsamer erfolgt als in den USA. Mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) hätten die Euromitglieder allerdings Solidarität bewiesen und eine Feuermauer gegen künftige Krisen errichtet, ist Lagarde überzeugt. Damit habe man die Krise zwar in Grenzen gehalten, die Nachwirkungen seien aber noch deutlich zu spüren. Das schlage sich in zu hoher Arbeitslosigkeit, stagnierenden Einkommen, verschuldeten Staatshaushalten nieder. Dazu kämen der Eindruck, dass die Ungleichheit steigt, und die Angst, dass es die nächste Generation wirtschaftlich schlechter haben werde. Was die Krise mit den Flüchtlingen angehe, könnten diese sich netto als Gewinn für Volkswirtschaften entwickeln, das zeigten Analysen des IWF. Entscheidend sei allerdings, sie möglichst rasch in Schulen und den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Dass sich derzeit viele Europäer angesichts all dessen Sorgen über ihre kulturelle Identität, ihre Sicherheit, ihre Jobs, Einkommen und ihren Lebensstandard machen, sei verständlich. Zu viele glaubten, dass sich die Dinge zum Besseren wenden, wenn Europa zu geschlossenen Grenzen und wirtschaftlichem Nationalismus zurückkehre.
Darin liege die größte Herausforderung für das europäische Projekt. Es sei überfällig, dieser pessimistischen Vision eine neue Perspektive für die zurückgelassenen Menschen, die keine Vorteile sehen, entgegenzustellen, sagte Lagarde. Dass das gelingt, davon ist die IWF-Chefin überzeugt, immerhin sei die EU die größte Errungenschaft seit der Geburt der Nationalstaaten.
„Nur ein geeintes Europa wird prosperieren und sich dynamisch entwickeln.“