Hänsel und Gretel im Tresorraum
Die Fußball-EM zeigt es wieder einmal: Man hätte das Reich, in dem die Sonne nicht unterging, nicht untergehen lassen sollen. Denn ob Schweinsteiger oder Ronaldo, ob Spanier oder Ungarn, alle würden ihre Tore dann für Österreich schießen. Aber so . . .
Doch kommen wir von den Ball- zu den heimischen Schienbeintretern, also zur Innenpolitik. Dort hat sich die Koalition nach ihrem Neustart überraschend schnell wieder der Normalform genähert. Man ärgert und hänselt einander, dass es eine dunkle Freude ist. Wobei „hänseln“vom Gender-Standpunkt her ein bedenklicher Ausdruck ist. Es muss hänseln und greteln heißen.
Apropos: Vor Kurzem – es war der Abend nach der Tagung der Europäi- schen Zentralbank in Wien – fand in einem Wiener Opernhaus eine Aufführung von „Hänsel und Gretel“statt. Im Publikum fanden sich auch zwei Herren von auffälliger Unauffälligkeit. Ihre cornettoartigen Oberkörper, funkverkabelten Ohren und pistolenartig ausgewölbten Brusttaschen ließen sie unschwer als Personenschützer erkennen. Woraufhin sich das Publikum natürlich fragte, zu wessen Schutz sie ausgerückt waren. Sollte der neue Bundeskanzler . . .? Nein, Christian Kern hat am Abend keine Zeit, er muss ja die Arbeitszeit verkürzen. Oder der alte Vizekanzler . . .? Nein, Reinhold Mitterlehner kann sich momentan nicht von seinem Sessel wegtrauen, sonst ist er futsch.
Das Rätsel löste sich, als zwischen den bewaffneten Cornettos eine elegante Dame Platz nahm. Offensichtlich war sie eine Teilnehmerin der EZB-Tagung, also eine europäische Nationalbankpräsidentin. Was sie dann zu sehen bekam, dürfte ihr die Haare zu Berge stehen lassen haben. Denn in dieser Inszenierung von „Hänsel und Gretel“war der Vater kein armer Besenbinder, sondern ein Staubsaugervertreter, der seinem pekuniären Engpass wodurch zu begegnen versuchte? Ausgerechnet durch einen Bankraub! Doch es sollte für die Dame noch schlimmer kommen. In der Inszenierung werden Hänsel und Gretel von ihren Eltern nicht in den Wald geschickt, um Essen zu suchen, sondern auf den Wiener Reumannplatz, von wo sie mit einem Plastiksackerl des dort beheimateten berühmten Eissalons zurückkehren. Auf dem Rückweg gelangen Hänsel und Gretel zufällig in den geheimen Tunnel, den ihr Vater unterirdisch zur Bank seiner Begierde gegraben hat. Plötzlich finden sich die Kinder im Tresorraum wieder, wo statt der bösen Hexe ein noch viel böserer Wachmann auf sie wartet.
Er versucht die Kinder nicht mit Pfefferkuchen fein, sondern mit Goldbarren in ein Schließfach für zwei Personen zu locken, was bei den derzeitigen Bankgebühren der helle Wahnsinn ist. Hänsel und Gretel bleiben daher lieber heraußen und beobachten, was die Hexe, äh, der Sicherheitsbeauftragte der Bank so tut. Spätestens jetzt werden die beiden Personenschützer nach ihren Pistolen gefingert haben, denn der Hexerich formte kleine Tonbarren, malte sie golden an und tauschte die Erzeugnisse seiner Handwerkskunst gegen die echten Goldbarren aus, die im Tresorraum lagerten, und verstaute diese in seiner Reisetasche.
Um es kurz zu machen: Am Ende gelingt es den aufgeweckten Kindern, den Wachmann in ein Schließfach zu sperren, woraufhin aus dem Tunnel plötzlich ihre Eltern herauskriechen. Die vier fallen einander in die familienzusammengeführten Arme, packen die Reisetasche mit den Goldbarren und unter Absingung lustiger Liedchen und Zurücklassung des einge-safe-ten Bösewichts verlassen sie die Bühne. Vorhang. In den Tresors der nichts ahnenden Bankkunden zurück bleiben die Barren aus Ton.
Was die zwiefach geschützte Nationalbankpräsidentin zu dieser gelungenen Parabel auf die Währungs- und Zinspolitik der Europäischen Zentralbank gesagt hat, war nicht in Erfahrung zu bringen.