Bärli war chancenlos
ICHhabe eines meiner Kindheitsidole verloren. Er kam als Cassius Marcellus Clay Jr. zur Welt und starb kürzlich als Muhammad Ali. Er ermöglichte mir, dem Volksschüler, ein nervenaufreibendes Mitzittern zu nachtschlafender Zeit. Stieg Muhammad Ali in den Ring, vergaßen meine Eltern ihre Erziehungsgrundsätze und weckten mich um zwei Uhr früh. Ich hörte Sigi Bergmanns Stimme, die Unverständliches („Jabs“, „Uppercut“oder „Infight“) von sich gab und sah meinen Vater mit angedeuteten Boxbewegungen vor dem dicken Röhrenfernseher. Und ich war glücklich.
Ich montierte ausgeschnittene Zeitungsfotos von Ali zu Collagen auf Drei-Stern-Zeichenpapier, entwickelte einen durch nichts gerechtfertigten Hass auf Joe Frazier und versuchte es, dem glorifizierten Boxer gleichzutun. Mein Opfer: Der ziemlich große Teddybär, den ich von meinem älteren Bruder geschenkt bekam. Bärli mutierte zu Joe Frazier. Der Ring? Ein abgegrenztes Stück vom flauschigen Teppichboden im elterlichen Schlafzimmer. Boxhandschuhe? Um die Hände gewickelte Geschirrtücher taten es auch. Die Kämpfe? Entschied ich alle für mich. Tänzelnd, wie das Vorbild.
Wiewohl: Bärli begann meist fulminant und schickte mich mehrmals auf den Teppich. Doch wie in den Drehbüchern der späteren „Rocky“-Filme rappelte ich mich immer wieder auf und schaffte das Nie-mehrGeglaubte. Der braune Plüsch-Joe-Frazier ging wieder k. o. Halblaut kommentierte ich die boxerische Weltsensation im Stil von Sigi Bergmann: „Wahnsinn! Schon wieder Jabs, Jabs, Jabs!“Später las ich Muhammad Alis Biografie („Der Größte – Meine Geschichte“) in der auch die darin geschilderten Sexszenen den Gerade-nicht-mehr-Volksschüler fesselten. Und ich ärgerte mich mit Millionen anderen über eine Farce: Alis Schaukampf gegen den japanischen Wrestler Antonio Inoki, der – am Boden liegend – nach den Beinen meines Idols trat.
In meinem Maturajahr litt ich mit Ali bei dessen letztem Kampf, dem „Drama in Bahama“gegen Trevor Berbick. Versuche, Treffern Berbicks auszuweichen, indem ich mit meinem Kopf in Deckung ging, halfen nicht. Ali verlor und trat ab. Sein Mythos bleibt.