Die Insel und der Kontinent
Steigt England aus der EU aus? Nicht zum ersten Mal schwankt die britische Politik zwischen aktiver Mitgestaltung Europas und dem Wunsch nach „splendid isolation“.
Die Debatte um den Brexit regt zur Frage an: Wie eng gestalteten sich die politischen Beziehungen zwischen dem Festland und dem Inselreich in früheren Jahrhunderten? Das Meer stellte für (see-)tüchtige Invasoren kein unüberwindbares Hindernis dar. Um die Mitte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts eroberten die Römer einen Großteil der Insel und gliederten die Provinz Britannia in ihr Weltreich ein. Nach dem Abzug der römischen Legionen zu Beginn des 5. Jahrhunderts setzten germanische Stämme wie die Angeln und die Sachsen vom Festland über. Danach verbreiteten die Wikinger (Nordmannen) aus Skandinavien mit ihren Raubzügen Angst und Schrecken an den westeuropäischen Küsten, fanden aber auch neuen Lebensraum wie in der heutigen Normandie oder im Nordosten Englands, wo sie in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts ein größeres Gebiet unter ihre Herrschaft brachten (Danelag).
Spannend wurde es im Jahr 1066. Auf dem Totenbett bestimmte der angelsächsische König Eduard der Bekenner den aus heimischem Adel stammenden Harold Godwinson zum Nachfolger. Dieser bekam es gleich mit zwei Invasionsheeren zu tun: Sowohl der Norwegerkönig Harald III. wie auch der normannische Herzog Wilhelm erhoben Ansprüche auf den Thron. Den einen konnte Harold bei York besiegen, dem anderen unterlag er kurz darauf in der Schlacht bei Hastings. Fortan herrschte Wilhelm der Eroberer nicht nur über die Normandie, sondern auch als König über England.
Die Verbindung zwischen dem Kontinent und der Insel war jedoch keine Einbahnstraße, Expansionspolitik erfolgte auch in umgekehrter Richtung. Der englische König Heinrich II., Begründer des Hauses AnjouPlantagenet, erlangte im 12. Jahrhundert unter anderem durch seine Ehe mit Eleonore von Aquitanien Ländereien auf dem Kontinent: Das heute Angevinisches Reich genannte Herrschaftsgebiet erstreckte sich von der schottischen Grenze bis zu den Pyrenäen. Es zerbrach im frühen 13. Jahrhundert am Konflikt mit Frankreich. Dass englische Könige den Kontinent keineswegs aus den Augen verloren, bewies Eduard III., der 1337 Anspruch auf die französische Krone erhob. Damit begann der (mehr als) Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich. Das Ergebnis? Das Inselreich verlor fast alle Besitzungen auf dem Kontinent, was die englischen Monarchen nicht daran hinderte, bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts den Titel eines französischen Königs zu führen.
Mochte die Tür zum Kontinent auch verschlossen sein: Das Tor zur neuen Welt stand offen. Gestützt auf die Royal Navy konzentrierte sich England darauf, im Wettlauf mit europäischen Staaten wie Spanien oder den Niederlanden Land zu gewinnen. Am Ende stand das British Empire, das größte Kolonialreich der Geschichte. England wurde zur Weltmacht. Dieser neue Status prägte die Außenpolitik, die sowohl die überseeischen Interessen wie auch die Entwicklungen auf dem Festland berücksichtigen musste. Aus diesem Spagat erklärt sich der schwankende politische Kurs zwischen aktiver Mitgestaltung Europas und Abkehr vom Kontinent.
Die Fähigkeiten zum Teamplayer konnte man England nicht absprechen. Im Kampf gegen das revolutionäre und napoleonische Frankreich erwies sich das Inselreich als hartnäckigster Gegner desselben. Anders als die übrigen europäischen Großmächte, die alle einmal ihr Heil in einem Bündnis mit Napoleon suchten, wechselte England nie die Fronten. Dem Sieg der Waffen folgte die Diplomatie. Der britische Außenminister Castlereagh trat auf dem Wiener Kongress 1814/15 für eine stabile Neuordnung Europas im Sinne einer „Balance of Power“ein. Nach seinem Tod jedoch zogen sich die Engländer in den 1820er-Jahren zunehmend von einer diplomatisch abgestimmten, gemeinsamen Europapolitik der Großmächte zurück. Im Gegensatz zu den konservativen Ostmächten Österreich, Russland und Preußen, die liberale Strömungen und Revolutionen wie in südeuropäischen Ländern mit Gewalt niederschlagen wollten, folgten sie dem Motto: No intervention. Solange nicht die am Kongress erreichte Ordnung Europas ins Wanken geriet und ein neuer Krieg gegen eine Supermacht wie das napoleonische Frankreich drohte, wollten sich die Briten aus den europäischen Querelen heraushalten und sich frei von einengenden Bündnispflichten den überseeischen Besitzungen und dem Welthandel widmen.
Anders sah die Lage aus, wenn britische Interessen gefährdet schienen wie in der russisch-türkischen Auseinandersetzung. Im Krimkrieg stellte sich England (wie Frankreich) 1854 auf die Seite der Türkei, denn als See- und Handelsmacht wollte es verhindern, dass Russland die Kontrolle über das Schwarze Meer und das östliche Mittelmeer erlangte und wichtige Überlandrouten nach Indien und dem Fernen Osten bedrohte.
Hingegen berührten die auf dem Kontinent ausgefochtenen Machtkämpfe zwischen den deutschen Großmächten Österreich und Preußen, die 1866 zum Ende des Deutschen Bundes führten, oder der bald darauf folgende Deutsch-Französische Krieg England nicht. Selbst die Gründung des Deutschen Reichs 1871 war für die Londoner Regierung vorerst kein Grund zur Sorge: Wichtig war aus britischer Sicht, dass die deutschen Staaten in welcher Form auch immer ein Gegengewicht zu Russland und Frankreich bildeten. „Dass sich England jeder unnötigen Einmischung in die Angelegenheiten Europas enthält, ist nicht auf Machtverfall zurückzuführen, sondern auf seine größer gewordene Stärke“, erklärte der britische Schatzkanzler und spätere Premierminister Benjamin Disraeli 1866. „England ist keine bloße europäische Macht, sondern der Mittelpunkt eines großen maritimen Reichs, das sich bis an die Grenzen der entferntesten Ozeane erstreckt. England hat sich keineswegs in einen Zustand der Apathie geflüchtet, wenn es sich fast prinzipiell weigert, auf dem europäischen Kontinent zu intervenieren.“Intervenieren würde England genug, nämlich in Asien, Afrika, Australien oder Neuseeland, „weil England tatsächlich eher eine asiatische als eine europäische Macht ist“.
In den nächsten Jahren konzentrierte sich England auf die Konsolidierung des Empires und verfolgte gegenüber Kontinentaleuropa eine Politik der „splendid isolation“.
Das änderte sich am Ende des 19. Jahrhunderts. Im Zeichen des Imperialismus und im Wettstreit um Kolonien verschärften sich die Rivalitäten zwischen den europäischen Großmächten. Man erwartete Krieg. Die britische Regierung wollte aus ihrer Isolation heraustreten und suchte aktiv nach Bündnispartnern. 1898 unterbreitete sie der deutschen Regierung ein Allianzangebot, um sich dem Dreibund (Deutsches Reich, ÖsterreichUngarn, Italien) anzunähern. Berlin zögerte. Da das Deutsche Reich zudem mit seiner Kolonialpolitik und der forcierten Flottenrüstung immer mehr zum gefährlichen Konkurrenten wurde, verständigte sich England in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts mit Japan, Frankreich und Russland. Von diesen Bündnissen sah sich wiederum das Deutsche Reich „eingekreist“. Die Fronten für den Ersten Weltkrieg standen fest.
Nach 1918 begann das Empire zu zerbröckeln, immer mehr Kolonien forderten ihre Unabhängigkeit ein. Mit der sukzessiven Dekolonisation ging eine Annäherung Englands an Kontinentaleuropa einher: Seit 1. Jänner 1973 ist England Mitglied der Europäischen Gemeinschaft. Folgt jetzt der Ausstieg?