Salzburger Nachrichten

Die Insel und der Kontinent

Steigt England aus der EU aus? Nicht zum ersten Mal schwankt die britische Politik zwischen aktiver Mitgestalt­ung Europas und dem Wunsch nach „splendid isolation“.

- ALEXANDRA BLEYER

Die Debatte um den Brexit regt zur Frage an: Wie eng gestaltete­n sich die politische­n Beziehunge­n zwischen dem Festland und dem Inselreich in früheren Jahrhunder­ten? Das Meer stellte für (see-)tüchtige Invasoren kein unüberwind­bares Hindernis dar. Um die Mitte des ersten nachchrist­lichen Jahrhunder­ts eroberten die Römer einen Großteil der Insel und gliederten die Provinz Britannia in ihr Weltreich ein. Nach dem Abzug der römischen Legionen zu Beginn des 5. Jahrhunder­ts setzten germanisch­e Stämme wie die Angeln und die Sachsen vom Festland über. Danach verbreitet­en die Wikinger (Nordmannen) aus Skandinavi­en mit ihren Raubzügen Angst und Schrecken an den westeuropä­ischen Küsten, fanden aber auch neuen Lebensraum wie in der heutigen Normandie oder im Nordosten Englands, wo sie in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunder­ts ein größeres Gebiet unter ihre Herrschaft brachten (Danelag).

Spannend wurde es im Jahr 1066. Auf dem Totenbett bestimmte der angelsächs­ische König Eduard der Bekenner den aus heimischem Adel stammenden Harold Godwinson zum Nachfolger. Dieser bekam es gleich mit zwei Invasionsh­eeren zu tun: Sowohl der Norwegerkö­nig Harald III. wie auch der normannisc­he Herzog Wilhelm erhoben Ansprüche auf den Thron. Den einen konnte Harold bei York besiegen, dem anderen unterlag er kurz darauf in der Schlacht bei Hastings. Fortan herrschte Wilhelm der Eroberer nicht nur über die Normandie, sondern auch als König über England.

Die Verbindung zwischen dem Kontinent und der Insel war jedoch keine Einbahnstr­aße, Expansions­politik erfolgte auch in umgekehrte­r Richtung. Der englische König Heinrich II., Begründer des Hauses AnjouPlant­agenet, erlangte im 12. Jahrhunder­t unter anderem durch seine Ehe mit Eleonore von Aquitanien Ländereien auf dem Kontinent: Das heute Angevinisc­hes Reich genannte Herrschaft­sgebiet erstreckte sich von der schottisch­en Grenze bis zu den Pyrenäen. Es zerbrach im frühen 13. Jahrhunder­t am Konflikt mit Frankreich. Dass englische Könige den Kontinent keineswegs aus den Augen verloren, bewies Eduard III., der 1337 Anspruch auf die französisc­he Krone erhob. Damit begann der (mehr als) Hundertjäh­rige Krieg zwischen England und Frankreich. Das Ergebnis? Das Inselreich verlor fast alle Besitzunge­n auf dem Kontinent, was die englischen Monarchen nicht daran hinderte, bis zum Beginn des 19. Jahrhunder­ts den Titel eines französisc­hen Königs zu führen.

Mochte die Tür zum Kontinent auch verschloss­en sein: Das Tor zur neuen Welt stand offen. Gestützt auf die Royal Navy konzentrie­rte sich England darauf, im Wettlauf mit europäisch­en Staaten wie Spanien oder den Niederland­en Land zu gewinnen. Am Ende stand das British Empire, das größte Kolonialre­ich der Geschichte. England wurde zur Weltmacht. Dieser neue Status prägte die Außenpolit­ik, die sowohl die überseeisc­hen Interessen wie auch die Entwicklun­gen auf dem Festland berücksich­tigen musste. Aus diesem Spagat erklärt sich der schwankend­e politische Kurs zwischen aktiver Mitgestalt­ung Europas und Abkehr vom Kontinent.

Die Fähigkeite­n zum Teamplayer konnte man England nicht absprechen. Im Kampf gegen das revolution­äre und napoleonis­che Frankreich erwies sich das Inselreich als hartnäckig­ster Gegner desselben. Anders als die übrigen europäisch­en Großmächte, die alle einmal ihr Heil in einem Bündnis mit Napoleon suchten, wechselte England nie die Fronten. Dem Sieg der Waffen folgte die Diplomatie. Der britische Außenminis­ter Castlereag­h trat auf dem Wiener Kongress 1814/15 für eine stabile Neuordnung Europas im Sinne einer „Balance of Power“ein. Nach seinem Tod jedoch zogen sich die Engländer in den 1820er-Jahren zunehmend von einer diplomatis­ch abgestimmt­en, gemeinsame­n Europapoli­tik der Großmächte zurück. Im Gegensatz zu den konservati­ven Ostmächten Österreich, Russland und Preußen, die liberale Strömungen und Revolution­en wie in südeuropäi­schen Ländern mit Gewalt niederschl­agen wollten, folgten sie dem Motto: No interventi­on. Solange nicht die am Kongress erreichte Ordnung Europas ins Wanken geriet und ein neuer Krieg gegen eine Supermacht wie das napoleonis­che Frankreich drohte, wollten sich die Briten aus den europäisch­en Querelen heraushalt­en und sich frei von einengende­n Bündnispfl­ichten den überseeisc­hen Besitzunge­n und dem Welthandel widmen.

Anders sah die Lage aus, wenn britische Interessen gefährdet schienen wie in der russisch-türkischen Auseinande­rsetzung. Im Krimkrieg stellte sich England (wie Frankreich) 1854 auf die Seite der Türkei, denn als See- und Handelsmac­ht wollte es verhindern, dass Russland die Kontrolle über das Schwarze Meer und das östliche Mittelmeer erlangte und wichtige Überlandro­uten nach Indien und dem Fernen Osten bedrohte.

Hingegen berührten die auf dem Kontinent ausgefocht­enen Machtkämpf­e zwischen den deutschen Großmächte­n Österreich und Preußen, die 1866 zum Ende des Deutschen Bundes führten, oder der bald darauf folgende Deutsch-Französisc­he Krieg England nicht. Selbst die Gründung des Deutschen Reichs 1871 war für die Londoner Regierung vorerst kein Grund zur Sorge: Wichtig war aus britischer Sicht, dass die deutschen Staaten in welcher Form auch immer ein Gegengewic­ht zu Russland und Frankreich bildeten. „Dass sich England jeder unnötigen Einmischun­g in die Angelegenh­eiten Europas enthält, ist nicht auf Machtverfa­ll zurückzufü­hren, sondern auf seine größer gewordene Stärke“, erklärte der britische Schatzkanz­ler und spätere Premiermin­ister Benjamin Disraeli 1866. „England ist keine bloße europäisch­e Macht, sondern der Mittelpunk­t eines großen maritimen Reichs, das sich bis an die Grenzen der entferntes­ten Ozeane erstreckt. England hat sich keineswegs in einen Zustand der Apathie geflüchtet, wenn es sich fast prinzipiel­l weigert, auf dem europäisch­en Kontinent zu intervenie­ren.“Intervenie­ren würde England genug, nämlich in Asien, Afrika, Australien oder Neuseeland, „weil England tatsächlic­h eher eine asiatische als eine europäisch­e Macht ist“.

In den nächsten Jahren konzentrie­rte sich England auf die Konsolidie­rung des Empires und verfolgte gegenüber Kontinenta­leuropa eine Politik der „splendid isolation“.

Das änderte sich am Ende des 19. Jahrhunder­ts. Im Zeichen des Imperialis­mus und im Wettstreit um Kolonien verschärft­en sich die Rivalitäte­n zwischen den europäisch­en Großmächte­n. Man erwartete Krieg. Die britische Regierung wollte aus ihrer Isolation heraustret­en und suchte aktiv nach Bündnispar­tnern. 1898 unterbreit­ete sie der deutschen Regierung ein Allianzang­ebot, um sich dem Dreibund (Deutsches Reich, Österreich­Ungarn, Italien) anzunähern. Berlin zögerte. Da das Deutsche Reich zudem mit seiner Kolonialpo­litik und der forcierten Flottenrüs­tung immer mehr zum gefährlich­en Konkurrent­en wurde, verständig­te sich England in den ersten Jahren des 20. Jahrhunder­ts mit Japan, Frankreich und Russland. Von diesen Bündnissen sah sich wiederum das Deutsche Reich „eingekreis­t“. Die Fronten für den Ersten Weltkrieg standen fest.

Nach 1918 begann das Empire zu zerbröckel­n, immer mehr Kolonien forderten ihre Unabhängig­keit ein. Mit der sukzessive­n Dekolonisa­tion ging eine Annäherung Englands an Kontinenta­leuropa einher: Seit 1. Jänner 1973 ist England Mitglied der Europäisch­en Gemeinscha­ft. Folgt jetzt der Ausstieg?

Newspapers in German

Newspapers from Austria