Als Kneipen noch Spucknäpfe hatten
John Dos Passos’ legendärer, detailfreudiger Roman über den Großstadtmoloch New York.
Die Anlegestation einer Fähre und ein Bahnhof, der nur auf Schienen erreichbar war, spendeten diesem Romanklassiker aus dem Jahr 1929 den Namen. Später trug eine New Yorker Vokalband die Fackel weiter, in dem sie just jenen Namen annahm. Wie Toni Morrisons „Jazz“ist auch „Manhattan Transfer“der Virtuosität von Worten verschrieben. Dieses scharf gestanzte Handlungsmosaik über den Großstadtdschungel New York hat den USamerikanischen Autor John Dos Passos (1896–1970) als Mitbegründer der modernen amerikanischen Literatur berühmt gemacht. Sein Selbstverständnis in diesem großen Roman ist jenes eines Peripatetikers. Er lässt die Leser – durch die Zeit wandelnd – teilhaben an ungezählten Schicksalen, die den wachsenden Moloch ausmachten. Es ist ein Bericht aus einer Zeit, als „the city, that never sleeps“sich noch manchen Schlummer gönnte.
Wie Menschen, egal ob reich oder arm, in dieser Metropole zu Beginn des 20. Jahrhunderts, um ihre Existenz oder Wichtigkeit kämpfen, wird im On-offRhythmus geschildert. Über eine Zeitspanne von 30 Jahren gewährt Dos Passos immer wieder Einblicke in Tragödien und Triumphe – und wendet sich dann abrupt wieder ab. Rückkehr ungewiss, aber möglich.
Ständig wird relativiert, was denn wichtig sei im Leben. Oft ist alles Bemühen vergebens. Selten trügt der Schein so hartnäckig wie hier. Die überbordende Detailfreude ist ungewollt unterhaltsam: „Vor Reedereibüros stehen Ausländer: Flachshaarige Norweger, Schweden mit breiten Gesichtern, Polen, dunkelhäutige, schmächtige, nach Knoblauch riechende Männer aus irgendwelchen Mittelmeerländern, riesige Slawen, drei Chinesen und ein paar Inder.“
John Dos Passos liebt Wiederholungen und setzt dieses Stilmittel gerne ein. Dann folgen, wie aus der Hüfte geschossene, grenzgeniale Sätze wie: „Ein kokettes Lächeln überbrückte den Türspalt.“Oder: „In einem niedrigen weißen Zimmer döste das Sonnenlicht auf einem verblichenen roten Sessel.“
Hingebungsvoll bemalt der Autor alle Gegenstände, die das Ambiente der Episoden über das Elend des Menschseins bestreiten. Und was ist nicht alles alles gelb in diesem Roman! Handschuhe, Ziegel, Licht, Haare, Nachthemden, ein Straßenbahnzug und sogar Pullover. HansDietrich Genscher hatte diesen Roman gewiss gelesen.
Dass Frauen auf Kaminsimsen sowohl Zucker für den Tee als auch Puderdosen deponieren, ist zumindest hinterfragenswert. Ein Leierkastenmann spielt den Donauwalzer. In Kneipen stolpert man über Spucknäpfe.
Den Autor interessiert schier alles: Kleidung, Gerüche, Gaslaternen, Droschken und Architektur – am Broadway gab es damals noch unbebaute Grundstücke. Wer den Roman zügig liest, wird belohnt. Dann entstehen aus losen Zusammenhängen plötzlich kleine Geschichten, die ungeachtet der Zeitsprünge Biografien erkennen lassen. Der Leser kann die Fakten kombinieren und die Geschichten selbst vervollständigen.
Ein Phänomen kehrt immer wieder: der amerikanische Traum, der Aufstieg. Aber auch, und viel öfter, der gnadenlose Absturz, das soziale Elend – bis eine Jazzband wieder an die Struktur dieses fabelhaften Romans erinnert. Ein Roman ohne Anfang und ohne Ende – wie in die Zeit gehauen.