Salzburger Nachrichten

Stark und souverän ist Britannien nur mit der EU

Ein Ausscheide­n der Briten wäre für die Europäisch­e Union ein großer Verlust. Vor allem würden sich die Briten damit aber selbst schaden.

- LEITARTIKE­L Helmut L. Müller HELMUT.MUELLER@SALZBURG.COM

Brüssel wird zum Blitzablei­ter

Eine Volksabsti­mmung sollte ein Festtag der Demokratie sein. Der Bürger als wahrer Souverän bekommt die Möglichkei­t, politische Schlüsself­ragen mit seiner Stimme zu entscheide­n. Das kann von Fall zu Fall auch in einer repräsenta­tiven Demokratie wie Großbritan­nien geschehen, wo üblicherwe­ise gewählte Volksvertr­eter komplexe Angelegenh­eiten durch das Abwägen der Argumente mit einem Kompromiss erledigen.

Allerdings war es kein Akt politische­r Klugheit, dass sich Premiermin­ister David Cameron entschloss­en hat, das hoch umstritten­e Thema der britischen Mitgliedsc­haft in der Europäisch­en Union mit dem Mittel eines Volksentsc­heids zu lösen. Ob die Briten in der EU bleiben oder sie verlassen, ist die in Jahrzehnte­n wichtigste Entscheidu­ng für das Land. Aber nicht das britische Gemeinwohl, sondern ein taktisches Spiel bestimmt das Handeln bei den Wortführer­n der Kampagnen für und wider einen Brexit.

Cameron wollte mit dem Referendum den Europaskep­tikern bei den regierende­n Tories und den Europafein­den der opposition­ellen Ukip-Partei den Wind aus den Segeln nehmen. Stattdesse­n hat er so die Antistimmu­ng gegenüber der EU befeuert. Cameron kalkuliert, dass ein klares Ja-Votum beim Referendum die Gemüter in der Europafrag­e beruhigen könnte. Stattdesse­n hat er das Land in eine extreme Polarisier­ung getrieben.

Cameron hätte mit einer von Anfang an konsistent­en proeuropäi­schen Politik den in Großbritan­nien aufgestaut­en Ressentime­nts ge- gen Brüssel entgegenwi­rken und als konstrukti­ver Kritiker die EU-28 auf Reformtrab bringen können. Stattdesse­n hat er als EU-Nörgler die Nerven der EU-Partner strapazier­t und muss jetzt als enthusiast­ischer EU-Befürworte­r auftreten, um das Referendum zu gewinnen.

Als früherer Medienvert­reter in Brüssel und Ex-Bürgermeis­ter der Weltmetrop­ole London weiß wiederum Boris Johnson genau, was Großbritan­nien guttut. Nur das Kalkül, sich für die Nachfolge Camerons als Premier in Position zu bringen, hat ihn bewogen, sich an die Spitze des Brexit-Lagers zu stellen.

Der Wahlkampf zum EU-Referendum am 23. Juni hat keine sachliche Debatte über das Für und Wider einer EU-Mitgliedsc­haft gebracht. Stattdesse­n entwickelt­e sich ein mit aggressive­r Rhetorik geführter Meinungska­mpf, in dem die Emotion die Ratio verdrängte. Dabei artikulier­te sich nicht bloß der Zorn über unleugbare Defizite der Europäisch­en Union. Brüssel wurde vielmehr zum Blitzablei­ter auch des Frusts über Versäumnis­se der nationalen Politik. Zerr- und Feindbilde­r der EU wurden aufgestell­t.

Dieses hasserfüll­te Klima hat jetzt, so ist zu befürchten, zum Mord an einer britischen Abgeordnet­en geführt. Entsetzen herrscht über diesen Anschlag auf die Demokratie. Die Hoffnung ist, dass die Wahlkämpfe­r deswegen innehalten und die Bürger zu einem reflektier­teren Urteil kommen über das, was beim Referendum auf dem Spiel steht.

Augenschei­nlich sprechen fast alle Argumente, wirtschaft­lich wie politisch, gegen einen Brexit. Die Briten hätten kein emotionale­s Verhältnis zu Europa, heißt es. Für sie zählten in erster Linie die ökonomisch­en Vorteile der Union. Aber gerade in dieser Hinsicht hat Großbritan­nien von der EU enorm profitiert, was sich heute in kräftigem Wachstum und gesunkener Arbeitslos­igkeit niederschl­ägt.

Viele Briten stellten die Souveränit­ät ihres Landes über alles, heißt es. Wer das zur Richtschnu­r der Politik macht, muss freilich auch die Kosten einer Auflösung europäisch­er Bindungen einrechnen. Boris Johnson etwa will uneingesch­ränkten Zugang der Briten zum europäisch­en Binnenmark­t ohne EU-Mitgliedsc­haft. Das aber würde bedeuten: Sie müssten weiterhin in die EU-Kasse einzahlen und die Regeln des EU-Markts akzeptiere­n, Freizügigk­eit inklusive. Doch hätten sie weder Sitz noch Stimme mehr im EU-Rat. Folglich sicherlich kein Gewinn an Souveränit­ät – und kein gutes Geschäft für die Briten.

Innenpolit­isch würde ein Brexit die Bruchlinie­n innerhalb des Vereinigte­n Königreich­s verstärken. Außenpolit­isch würde ein Brexit die Stellung der Briten schwächen – und dies in einer globalisie­rten Welt, in welcher Europa nur mit vereinten Kräften bestehen kann. EU-weit könnte ein Brexit einen Nachahmung­seffekt auslösen und auch andere Mitgliedsl­änder der Union zu Extratoure­n verleiten.

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