Stark und souverän ist Britannien nur mit der EU
Ein Ausscheiden der Briten wäre für die Europäische Union ein großer Verlust. Vor allem würden sich die Briten damit aber selbst schaden.
Brüssel wird zum Blitzableiter
Eine Volksabstimmung sollte ein Festtag der Demokratie sein. Der Bürger als wahrer Souverän bekommt die Möglichkeit, politische Schlüsselfragen mit seiner Stimme zu entscheiden. Das kann von Fall zu Fall auch in einer repräsentativen Demokratie wie Großbritannien geschehen, wo üblicherweise gewählte Volksvertreter komplexe Angelegenheiten durch das Abwägen der Argumente mit einem Kompromiss erledigen.
Allerdings war es kein Akt politischer Klugheit, dass sich Premierminister David Cameron entschlossen hat, das hoch umstrittene Thema der britischen Mitgliedschaft in der Europäischen Union mit dem Mittel eines Volksentscheids zu lösen. Ob die Briten in der EU bleiben oder sie verlassen, ist die in Jahrzehnten wichtigste Entscheidung für das Land. Aber nicht das britische Gemeinwohl, sondern ein taktisches Spiel bestimmt das Handeln bei den Wortführern der Kampagnen für und wider einen Brexit.
Cameron wollte mit dem Referendum den Europaskeptikern bei den regierenden Tories und den Europafeinden der oppositionellen Ukip-Partei den Wind aus den Segeln nehmen. Stattdessen hat er so die Antistimmung gegenüber der EU befeuert. Cameron kalkuliert, dass ein klares Ja-Votum beim Referendum die Gemüter in der Europafrage beruhigen könnte. Stattdessen hat er das Land in eine extreme Polarisierung getrieben.
Cameron hätte mit einer von Anfang an konsistenten proeuropäischen Politik den in Großbritannien aufgestauten Ressentiments ge- gen Brüssel entgegenwirken und als konstruktiver Kritiker die EU-28 auf Reformtrab bringen können. Stattdessen hat er als EU-Nörgler die Nerven der EU-Partner strapaziert und muss jetzt als enthusiastischer EU-Befürworter auftreten, um das Referendum zu gewinnen.
Als früherer Medienvertreter in Brüssel und Ex-Bürgermeister der Weltmetropole London weiß wiederum Boris Johnson genau, was Großbritannien guttut. Nur das Kalkül, sich für die Nachfolge Camerons als Premier in Position zu bringen, hat ihn bewogen, sich an die Spitze des Brexit-Lagers zu stellen.
Der Wahlkampf zum EU-Referendum am 23. Juni hat keine sachliche Debatte über das Für und Wider einer EU-Mitgliedschaft gebracht. Stattdessen entwickelte sich ein mit aggressiver Rhetorik geführter Meinungskampf, in dem die Emotion die Ratio verdrängte. Dabei artikulierte sich nicht bloß der Zorn über unleugbare Defizite der Europäischen Union. Brüssel wurde vielmehr zum Blitzableiter auch des Frusts über Versäumnisse der nationalen Politik. Zerr- und Feindbilder der EU wurden aufgestellt.
Dieses hasserfüllte Klima hat jetzt, so ist zu befürchten, zum Mord an einer britischen Abgeordneten geführt. Entsetzen herrscht über diesen Anschlag auf die Demokratie. Die Hoffnung ist, dass die Wahlkämpfer deswegen innehalten und die Bürger zu einem reflektierteren Urteil kommen über das, was beim Referendum auf dem Spiel steht.
Augenscheinlich sprechen fast alle Argumente, wirtschaftlich wie politisch, gegen einen Brexit. Die Briten hätten kein emotionales Verhältnis zu Europa, heißt es. Für sie zählten in erster Linie die ökonomischen Vorteile der Union. Aber gerade in dieser Hinsicht hat Großbritannien von der EU enorm profitiert, was sich heute in kräftigem Wachstum und gesunkener Arbeitslosigkeit niederschlägt.
Viele Briten stellten die Souveränität ihres Landes über alles, heißt es. Wer das zur Richtschnur der Politik macht, muss freilich auch die Kosten einer Auflösung europäischer Bindungen einrechnen. Boris Johnson etwa will uneingeschränkten Zugang der Briten zum europäischen Binnenmarkt ohne EU-Mitgliedschaft. Das aber würde bedeuten: Sie müssten weiterhin in die EU-Kasse einzahlen und die Regeln des EU-Markts akzeptieren, Freizügigkeit inklusive. Doch hätten sie weder Sitz noch Stimme mehr im EU-Rat. Folglich sicherlich kein Gewinn an Souveränität – und kein gutes Geschäft für die Briten.
Innenpolitisch würde ein Brexit die Bruchlinien innerhalb des Vereinigten Königreichs verstärken. Außenpolitisch würde ein Brexit die Stellung der Briten schwächen – und dies in einer globalisierten Welt, in welcher Europa nur mit vereinten Kräften bestehen kann. EU-weit könnte ein Brexit einen Nachahmungseffekt auslösen und auch andere Mitgliedsländer der Union zu Extratouren verleiten.