Addieren sollte der Staat doch können
Egal, ob nun die Verfassungsrichter die Bundespräsidentenstichwahl aufheben oder nicht: Für das Klima im Land, für das Zutrauen der Bürger zum Staat, ja: für ganz Österreich handelt es sich um eine klassische Lose-lose-Situation. Also um eine Situation, in der man nur verlieren kann. Einerlei, wie sie ausgeht.
Denn welche Alternativen gibt es? Entweder die Verfassungsrichter kommen zur Erkenntnis, dass die Wahl rechtens ist – mit der Begründung, dass zwar die Stimmenauszählung von Unregelmäßigkeiten geprägt war, diese Unregelmäßigkeiten aber keinen Einfluss auf das Wahlergebnis hatten. In diesem Fall kann Alexander Van der Bellen die Präsidentschaft ohne weitere Hindernisse antreten, und Norbert Hofer bleibt Wahlverlierer. Doch die Freiheitlichen, unterstützt von Tausenden Verschwörungstheoretikern in den sozialen Medien und am Wirtshaustisch, haben in diesem Fall sechs Jahre lang Zeit, die Legende vom gestohlenen Wahlsieg zu spinnen. Und sich als Opfer einer weitgespannten politischen Intrige zu inszenieren. Das hätte diesem Land, in dem die Politiker- und Systemverdrossenheit ohnehin schon ein bedenkliches Ausmaß angenommen hat, gerade noch gefehlt.
Oder aber der Verfassungsgerichtshof beschließt, das Wahlergebnis zu korrigieren. Beispielsweise, indem er einen Teil der Briefwahlstimmen für ungültig erklärt. Oder sogar, indem er eine teilweise oder vollständige Wiederholung der Wahl anordnet. In diesem Fall kann das Pendel noch zugunsten Norbert Hofers ausschlagen. Und das viel gerühmte Österreich hätte sich als Land entpuppt, das nicht in der Lage ist, Wahlen ordnungsgemäß abzuwickeln. Auch das hätte diesem Land, in dem die Politiker- und Systemverdrossenheit ohnehin schon ein bedenkliches Ausmaß angenommen hat, gerade noch gefehlt.
Wie man es also dreht und wendet: Österreich kann nur verlieren.
Anders als in einem Teil der veröffentlichten Meinung dargestellt, tragen die Verantwortung für diese desaströse Situation aber nicht die Freiheitlichen, die die Wahl beeinsprucht haben. Sie haben bloß ein verfassungsrechtlich verbrieftes Recht wahrgenommen, und das wird man wohl noch dürfen. Die Verantwortung für diese Situation, in der Österreich nur verlieren kann, trägt eine überforderte Wahlbürokratie, und die Verantwortung reicht bis hinauf ins Innenministerium.
Eingeweihte behaupten, dass da und dort die Stimmenauszählung seit vielen Jahren und seit vielen Wahlen nicht getreu den Buchstaben des Gesetzes vorgenommen wurde. Wenn das stimmt, dann steht mehr auf dem Spiel als eine bloße Wahlwiederholung. Man muss die Frage stellen, wie ein solcher RechtsstaatsSchlendrian einreißen konnte und warum er jahrelang toleriert wurde.
Die Peinlichkeit erreicht ihren Gipfelpunkt angesichts des Umstands, dass eine Präsidentschaftsstichwahl für die Wahlbehörden eigentlich eine lockere Fingerübung sein sollte. Denn es gibt nicht, wie etwa bei einer Nationalratswahl, etliche Wahllisten, sondern bloß zwei Kandidaten. Und Österreich ist nicht in neun Landes- und etliche Bezirkswahlkreise unterteilt, sondern das ganze Land ist ein einziger Wahlkreis. Klarerweise gibt es auch, anders als bei Nationalratsoder Landtagswahlen, keine Vorzugsstimmen, keine zusätzlichen Stimmzettel und sonstige Komplikationen. Um diese Herausforderung zu meistern, muss man von den vier Grundrechnungsarten nur eine beherrschen, das Addieren.
Sollte sich herausstellen, dass der Staat Österreich an dieser vergleichsweise leichten Aufgabe gescheitert ist, stellt sich manch bange Frage. Zum Beispiel die Frage, ob es weitere Lebensbereiche gibt, in denen es der Staat nicht so ganz genau nimmt mit den Gesetzen. Muss man in Zukunft jede staatliche Steuerforderung eigenhändig nachrechnen? Muss man sich bei jeder Verkehrskontrolle fragen, ob das Radargerät und der Alkomat auch richtig eingestellt sind? Kann man diesem Staat noch trauen?
Die eingangs erwähnte Politiker- und Systemverdrossenheit ist eine Kleinigkeit gegen den Vertrauensverlust, der hier droht. ANDREAS.KOLLER@SALZBURG.COM