Der Boss sucht den totalen Rock
Die Welt braucht Aufrechte und harte Arbeiter. Einer von ihnen ist Bruce Springsteen. In München war er auf Montage.
MÜNCHEN. Es bleibt trocken. Jedenfalls von oben. Innen strömt Herzblut. Und von innen heraus dringt dann auch der Schweiß. Denn wenn Bruce Springsteen kommt, dann wird gearbeitet. Von denen oben auf der Bühne und freilich auch von den 57.000, die zu ihm nach München, nun ja, gepilgert sind. Bei Springsteen, seit Jahrzehnten eine der ersten Adressen, wenn es um den Beweis geht, dass Rockmusik niemals sterben wird, ist die Übereinkunft zwischen dem, der predigt, und denen, die ihm und seiner Sprache folgen, überwältigend.
Euphorie auf der Suche nach Erlösung in Gitarrengewitter, Pianosturm und Schlagzeugdonner schwebt schon um knapp nach sieben am helllichten Abend im Olympiastadion, als der Boss anhebt. Und der Jubel hört erst gut dreieinhalb Stunden später beim Heimgehen auf – innen gewärmt, manche gesegnet durch einen Handschlag vom Boss oder gar von seinem Schweißtropfen getauft. Äußerlich aber alles trocken. Warum das eine Rolle spielt? Weil es beim letzten Mal in München ganz anders war.
„Erinnert ihr euch an letztes Mal?“, fragt Springsteen. Weil die meisten, die da sind, Wiederholungstäter sind, wissen sie’s noch genau: Saukalt und regnerisch war’s damals im Mai 2013, als Springsteen mit dem CCR-Cover „Who’ll Stop the Rain“begonnen hatte. Und jetzt sagt er: „Jessas, da habe ich mir aber den Hintern abgefroren.“
Der Boss, das ist so einer, der sich erinnert. An die Mädels, die auf der Thunder Road hinab zum River fahren, in das Land of Hopes and Dreams, um The Promise einzulösen und ihre Hungry Hearts zu stillen. Jetzt ist er schon 66, hat Millionen Platten verkauft und gehört immer noch zu denen, die niemals Dienst nach Vorschrift machen würden. Er ist keiner von den Bossen, die ihre Mitarbeiter einfach austauschen (nur der Tod veränderte tragischerweise viel zu früh die Besetzung der E-Street-Band). Er verändert nicht die Produktionsbedingungen. Er verlegt auch nicht die Produktionsstätten in Billiglohnländer oder seelenlose Hallen. Im Olympiastadion war er schon im Juni 1986, als ihn „Born in the USA“zum Überstar gemacht hatte. Und so entspricht dieser Boss in der Erinnerung und in der Gegenwart, in der er nun ein Mädel zum Mitsingen von „Waitin’ on a Sunny Day“auf die Bühne holt, eher dem Anführer eines verschworenen Freundeskreises (inklusive des Publikums) als einem knallharten Unternehmer, wie sie in der Popkultur längst Mode sind. Eine Stunde Programm, dann eine halbe Stunde Zugaben. Aus. So was spielt’s beim Boss nicht. Bei dem geht es erst los, wenn andere ihre Jünger längst heimschicken.
Aufopferungsvoll verbreitet er die Botschaft von der Heilkraft der Aufrichtigkeit und ehrlicher Arbeit, der Sorgen kleiner Leute und der Sehnsucht nach dem Licht am Ende jeder Darkness. Und all diese Erzählungen kommen vor allem in der Rockmusik – erst recht in der Romanform, mit der sie Springsteen anlegt – so gut zur Geltung. Rockmusik heißt hier: Hirn, Herzblut und dreckige Finger. Hier wird gekeucht und gefuchtelt und Arme umarmend ausgebreitet. Es wird in die Knie gesunken. Bruce kämpft immer. Und der Kampf um ein gelungenes Konzert wird dann auch Symbol für den Kampf um eine bessere, gerechtere Welt.
Dieser Boss ist dabei kein Gebieter. Er ist Verbrüderer. Und für diesen Auftrag liefert er Rock ’n’ Roll total an einem Ort, an dem einst beim Finale der Fußball-WM 1974 der Totaalvoetbal der freigeistigen Holländer an der strengen Arbeitsmoral der Deutschen scheiterte.
Springsteen bringt – um die zeitgemäße Idee von Fußball ins Spiel zu bringen – beide Elemente mühelos zusammen: Freisinn und Rackerei, sanfte Poesie und klare Ansagen. Als einer im Publikum ein „Fuck Trump – we wanna dance with the Boss“hochhält, verliert der Boss kein Wort. Stattdessen sorgt Demokrat Springsteen dafür, dass das Schild auf den Riesenleinwänden im ganzen Stadion zu sehen ist. Auch Springsteen hat hart gearbeitet, Millionen verdient und einen Privatjet – aber eben nicht, um sich über andere zu stellen, sondern um ihnen zu zeigen: Ihr könnt es schaffen mit einer Gitarre in der Hand und Stabilität im Rückgrat.
„Ich versuche, ein Konzert abzuliefern, das der Bub in der ersten Reihe nie vergisst“, sagt Springsteen. Er sagte es zu David Remnick, dem Chefredakteur des Magazins „New Yorker“, der ihn vor einigen Jahren begleiten konnte und tief in Seele und Arbeitswelt von Springsteen vordrang. Aber jetzt, hier im Olympiastadion, drehen auch die ganz oben im Juchhe unter dem Glasdach durch. „I could give it all to you now, if only you could ask“, singt Boss, ganz allein mit der Gitarre zur letzten Zugabe, dem Uraltsong „For You“. Manchmal muss man aber nach gar nichts fragen.