Ein Wahlsystem steht vor dem Höchstgericht
Die Anfechtung der Hofburg-Stichwahl fördert einen Schlendrian beim Auszählen der Briefwahlstimmen zutage, der seinesgleichen sucht. Viele Beisitzer agierten nach dem Motto: Vertrauen ist gut, Kontrolle überflüssig.
WIEN. Je mehr Zeugen zu Wort kommen, je mehr nachgefragt wird, umso stärker wird das Unbehagen. Das Unbehagen darüber, wie leichtfertig sich manche Behördenleiter über gesetzliche Vorschriften bei der Auszählung der Briefwahlstimmen bei der Hofburg-Stichwahl hinweggesetzt haben. „Sonst hätten wir die große Zahl der Briefwahlstimmen nicht bewältigen können“, gibt ein Bezirkswahlleiter offen zu. Ein anderer sagt, dass das Gesetz einfach nicht praktikabel sei.
Äußerst unbehaglich ist es auch, wie ahnungslos und vertrauensselig viele Wahlbeisitzer der politischen Parteien, die den Ablauf überwachen sollen, die Gesetzwidrigkeiten bei der Stimmenauszählung abgenickt haben. Sie habe das Wahlprotokoll im Vertrauen, dass „alles passt“, unterschrieben, sagt etwa eine Beisitzerin aus dem Bezirk Innsbruck-Land. „Wenn da ein Jurist am Werk ist, dann wird das schon so stimmen“, fügt sie hinzu. Gelächter im Saal. Doch auch die meisten anderen geben zu, dass sie Protokolle unterschrieben haben, die sie nicht gelesen haben. „Das haben wir immer so gemacht“, sagte ein anderer Beisitzer. Das Unwissen über die gesetzlichen Spielregeln ist parteiübergreifend.
Es ist Tag eins der öffentlichen Verhandlung zur Anfechtung der Hofburg-Stichwahl durch die FPÖ vor dem Verfassungsgerichtshof. Schon nach der Anhörung der Zeugen aus den ersten vier von 17 Bezirken, in denen grobe Gesetzwidrigkeiten beanstandet werden, ist klar: Da hat sich ein Schlendrian bei den Wahlbehörden eingeschlichen, der nicht nur gegen das Gesetz, sondern auch äußerst demokratieschädigend ist: Briefwahlstimmen sollen schon am Wahlabend statt erst tags darauf ab neun Uhr geöffnet und teils ausgezählt worden sein, unbefugte Helfer sollen die Arbeit übernommen haben. Und Beisitzer wussten mitunter nicht einmal Bescheid, dass sie bei der Auszählung hätten dabei sein müssen.
Insofern bestätigten sich die Vorwürfe der FPÖ, deren Kandidat Norbert Hofer erst knapp voran, aber nach Auszählung der Briefwahlstimmen rund 30.000 Stimmen hinter seinem vormals grünen Herausforderer Alexander Van der Bellen gelegen ist: Viele, teils schwere formale Fehler im Ablauf der Auszählung, aber – und das behauptet auch die FPÖ nicht – bisher keine Vorwürfe von Wahlbetrug.
Exemplarisch ist der Ablauf der Briefkartenauszählung im großen Bezirk Innsbruck-Land, wo 14.000 Briefwahlstimmen ausgezählt werden mussten. Laut dem Bezirkswahlleiter wurden ob dieser großen Menge die Briefwahlkarten daher schon am Wahlabend auf ihre Gültigkeit überprüft und teils die Stimmkuverts herausgenommen. Am nächsten Tag ab neun Uhr sei ausgezählt worden. Das Problem dabei: Die Kuverts hätten nicht geöffnet werden dürfen. Gezählt wurde sie dann aber trotzdem. Nur nicht von den Beisitzern, wie das das Gesetz vorsieht, sondern von Mitarbeitern der Bezirksbehörde, die in neun Zweierteams bis zum Nachmittag die Stimmen zählten. Nur eine grüne Beisitzerin hatte zwei Mal für fünf Minuten vorbeigeschaut, wie sie berichtete.
Alles rechtens, sagt Wahlleiter und stv. Bezirkshauptmann Wolfgang Nairz. Schon 2013 sei ihm in der konstituierenden Sitzung der Bezirkswahlkommission von allen Beisitzern eine Ermächtigung „generell für Wahlen“erteilt worden, mit seinen Mitarbeitern die Auszählung der Briefwahlstimmen zu übernehmen. Am Wahlabend habe er alle Beisitzer nochmals informiert. Das Gesetz gebe ihm diese Möglichkeit, betont er. Leider wurde weder der Beschluss 2013 noch jener am Wahlabend dokumentiert.
Bei der Sitzung der Wahlbehörde am Montag um 16 Uhr haben dann aber alle Beisitzer das Protokoll unterschrieben, mit dem sie bestätigten, dass sie bei der Auszählung der Briefwahlstimmen ab neun Uhr anwesend waren. „Haben Sie gelesen, was Sie da unterschrieben haben?“, wollten die Richter immer wieder
„Haben Sie gelesen, was Sie da unterschrieben haben?“„Nein.“