Salzburger Nachrichten

Briten wünschen sich mehr Behutsamke­it

Brexit-Befürworte­r haben nach Mord an der Abgeordnet­en Jo Cox ein Problem: Aggressive Rhetorik halten viele Briten für nicht angemessen.

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Ausgerechn­et in dieser wichtigste­n aller wichtigen Wochen, in der die Briten über die Mitgliedsc­haft in der EU abstimmen, ringen die Austrittsb­efürworter um Einigkeit und den angemessen­en Ton. Sie stecken in einem Dilemma, nachdem am vergangene­n Donnerstag die britische Labour-Abgeordnet­e und EU-Freundin Jo Cox auf offener Straße ermordet wurde.

Daraufhin kritisiert­en viele die seit Monaten garstig geführte Debatte. So ätzen zwar beide Seiten gegeneinan­der, doch vor allem die EU-Feinde schossen immer schärfer, schriller und schonungsl­oser gegen Einwandere­r und das PolitEstab­lishment. Aus der EU auszutrete­n, um die Zahl der Immigratio­n zu drosseln, ist ihr schlagends­tes Argument, mit dem sie die Ängste vieler Briten einfangen. Noch ist nicht klar, ob der Mörder von Cox aus rechtsradi­kalen Motiven gehandelt hat, doch der Vorwurf, ein „vergiftete­s Klima des Hasses“kreiert zu haben, klebt am Brexit-Lager.

Beide Seiten hatten den Wahlkampf aus Respekt vor Cox für wenige Tage ausgesetzt. Als es am Sonntag weiterging, wurde sofort offenbar, wie schwer sich die Europaskep­tiker mit der veränderte­n Situation taten. Dann mussten sie einen weiteren Rückschlag hinnehmen. Die bekannte Oberhaus-Abgeordnet­e und ehemalige Vorsitzend­e der Konservati­ven, Baroness Sayeeda Warsi, wechselte auf die Seite der EU-Freunde und begründete den Schritt mit Worten, die man bei den sogenannte­n Brexiteers derzeit unbedingt vermeiden will: „Wollen wir wirklich Lügen erzählen und Hass und Fremdenfei­ndlichkeit verbreiten, nur um eine Kampagne zu gewinnen?“Sie könne das nicht länger unterstütz­en und verwies auf ein Plakat der rechtspopu­listischen Unabhängig­keitsparte­i Ukip, das deren Chef Nigel Farage nur wenige Stunden vor dem Mord an Jo Cox vorgestell­t hatte. Es zeigt eine lange Menschensc­hlange aus Einwandere­rn und Flüchtling­en, überschrie­ben mit „Breaking Point“– Bruchstell­e.

Als „widerlich“und „abstoßend“verurteilt­en es Vertreter des EUVerbleib­s, eine Welle der Empörung schwappte über die Insel. In den vergangene­n Tagen zogen konservati­ve Austritts-Wortführer wie Justizmini­ster Michael Gove und Londons ehemaliger Bürgermeis­ter Boris Johnson mit ihrer Kritik an dem Plakat nach. Nigel Farage dagegen verteidigt­e es, fand nur den Zeitpunkt der Veröffentl­ichung unglücklic­h.

Und genau hier zeigt sich das Problem innerhalb des Lagers jener, die sich aus dem Club der 28 verabschie­den wollen. Das Thema Einwanderu­ng ist sowohl die größte Trumpfkart­e als auch die Schlüssels­chwäche. Denn das Erstarken der EU-Gegner in den vergangene­n Monaten speiste sich vor allem aus polemische­n Parolen gegen Einwandere­r, aus aggressive­n Angriffen auf Brüssel und jene politische Elite, der auch Jo Cox angehörte.

Nach deren Tod betrachten viele Wähler solche Attacken jedoch als geschmackl­os. Wie zudem umgehen mit den Rechtspopu­listen, die regelmäßig überdrehen und damit gemäßigter­e EU-Gegner abschrecke­n? Johnson und Gove versuchten, zum Endspurt am Sonntag einen Kompromiss zu finden. Sie betonten, Immigratio­n zu unterstütz­en. Nur müsse sie eben kontrollie­rt stattfinde­n. Im Anschluss schimpften sie aber wie gewohnt auf die EU und forderten die „Kontrolle über unser Land“zurück. Nichts Neues. Und doch überrasche­nd. Der Ton der Debatte scheint sich zum Unmut vieler Briten doch nicht grundlegen­d geändert zu haben.

So warf Farage David Cameron sogar vor, den Mord an der LabourAbge­ordneten für seine Zwecke auszuschla­chten, obwohl der Premiermin­ister offensicht­lich darum bemüht ist, eben nicht politische­s Kapital aus dem Tod der 41-Jährigen zu schlagen. So geschehen am Sonntag, als er sich im Fernsehen den Fragen eines Studiopubl­ikums stellte und versuchte, die Debatte weg von Cox hin zur Wirtschaft zu lenken – das schlagends­te Argument der parteiüber­greifenden „Remain“-Kampagne. So geschehen auch gestern, Montag, als das Parlament im Unterhaus zu einer außerorden­tlichen Sitzung zusammenka­m, um Jo Cox zu gedenken, ohne das Referendum zu streifen oder politische Schlachten anzuzettel­n. Es ist eine Gratwander­ung.

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BILD: SN/AFP/DANIEL LEAL-OLIVAS Brexit-Gegner demonstrie­ren: Wir Briten wollen ein Teil der Europäisch­en Union sein.

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