Wo Gletscher noch wachsen
Am Ende der Welt. Wer die Gletscherwelt Patagoniens erlebt, lernt die Natur neu kennen.
Unter dieser Rubrik
erzählen SN-Redakteurinnen und -Redakteure in unregelmäßigen Abständen von einer Reise, die sie privat in ihrem Urlaub unternommen haben.
Die heutige Reise war Teil einer Rucksacktour durch Südamerika. Für den Aufenthalt in Patagonien war eine Woche vorgesehen. Mit dem Flugzeug ging es von Buenos Aires nach Ushuaia und von dort weiter nach El Calafate – dem Ausgangsort für die Tagesreisen zum wohl berühmtesten Gletscher Südamerikas, dem Perito Moreno. Stille. Nichts als Stille. Der eisige Riese direkt vor uns. Der Kapitän hat den Schiffsmotor abgestellt, die Passagiere wirken kindlich aufgeregt. Und dann: ein Rums, dessen Echo sich im ganzen Tal ausbreitet. Ein Stück jahrtausendealter Geschichte versinkt in den Tiefen des Wassers. Wer hier am Ende der Welt ankommt, sieht diese mit anderen Augen. Hier gelten andere Gesetze, Zeit verliert an Bedeutung. Die mehr als 70 Meter hohe Eiswand streckt sich in die Höhe, als wollte sie ein Urteil sprechen. Dagegen wirkt das Passagierboot wie ein Stück Treibholz auf hoher See. Es ist einer der Momente, in denen die Natur einen die Ehrfurcht lehrt und die Umgebung unwirklich erscheint. Bis die sich anbahnende Flutwelle einen wieder in die Realität zurückkehren lässt.
Mehrmals täglich können Touristen das Kalben, das Abbrechen größerer Eismassen, des wohl berühmtesten Gletschers Südamerikas beobachten. Der Perito-Moreno-Gletscher im argentinischen Teil Patagoniens bedeckt eine Fläche so groß wie Wien. Seine riesige Zunge streckt er in den Lago Argentino. Dieser See ist fast drei Mal so groß wie der Bodensee und mehr als 15.000 Jahre alt. Obwohl die Gletscher weltweit zurückgehen, ist der Perito Moreno einer der wenigen, die eine Balance zwischen Wachsen und Schrumpfen halten.
„Dass der Gletscher nicht schrumpft, liegt an den klimatisch günstigen Winden“, erklärt der argentinische Reiseführer Tato. Die Winde wehen von West nach Ost und prallen gegen die Anden, die sich die Westküste Südamerikas entlangziehen. Die feuchten Luftmassen steigen auf, ihre Temperatur sinkt, bis sie schließlich kondensieren und sich auf dem patagonischen Eisfeld niederschlagen. Der wachsende Druck presst die übereinander lagernden Massen im Laufe der Jahre zu Eisschichten zusammen. Der Perito Moreno schafft es also, in hohen Regionen dieselbe Masse an Eis aufzubauen, wie täglich unten am See abschmilzt.
Am Ufer des Lago Argentino erstreckt sich eine wüstenartig anmutende Steppenlandschaft. Das Thermometer zeigt 19 Grad Celsius an. Hinter uns singen die Grillen ein Sommerkonzert. Vor uns zeigt sich das Gletschermeer. Man fühlt sich in einer Welt vor Tausenden von Jahren angekommen, als nicht der Mensch, sondern die Natur regierte. Die Gletscher sind wie Geschichtsbücher. Sie waren da, lange bevor Hannibal die Alpen überquerte. Bevor Österreich und Ungarn eine Monarchie bildeten, bevor die Österreicher in Córdoba jubelten.
Sofort will man ganz und gar in dieses Stück lebende Geschichte eintauchen. Profis schnallen uns Spikes an die Unterseite der Schuhe, Tato gibt letzte Anweisungen. Trotz sommerlicher Temperaturen bekommt jedes der etwa 20 Mitglieder der Reisetruppe Handschuhe. „Das messerscharfe Eis verzeiht keine Fehler“, warnt Tato. „Vor einigen Jahren hatte ich einen in der Gruppe, der keine Handschuhe anziehen wollte. Als er stolperte und sich am Boden abstützen musste, verlor er seinen Daumen. So schnell konnte er gar nicht schauen.“
Die Tritte fühlen sich noch etwas wackelig an auf dem Eis. Auch wenn die Hanglage noch so schräg ist, die Füße breitflächig fest in den Gletscher verankern, hallt es noch in den Ohren. Immer in der Spur des Vorgängers bleiben. Man wisse nie, wo unterirdische Löcher voll Gletscherwasser lauerten.
Diese Spalten mit tiefblauem Wasser kreuzen den Weg immer wieder. Wie tief diese Löcher sind, lässt sich nur ungefähr erahnen. Der erste Spalt fordert noch einige Überwindung. Tato und sein Helfer geben uns die Hand, damit wir sicher zur anderen Seite gelangen. Je weiter wir kommen, desto trittsicherer werden wir. Bald springen wir wie Gämsen über solche Hindernisse.
Seit zehn Jahren begeistert Tato Touristen für diese Eiswunderwelt. Den Perito Moreno kennt er in- und auswendig. Er erzählt davon, wie er mit den Huber Buam unterwegs war. Die beiden sind Extremkletterer aus dem Berchtesgadener Land – ob wir sie kennen? Natürlich. Die Leichtigkeit, mit der er über den Gletscher tänzelt, beeindruckt. Das war nicht immer so: „Je mehr Zeit man in dieser Natur verbringt, desto hartgesottener wird man. Ich habe eine tiefe Verbindung zum Gletscher aufgebaut, um hier überhaupt überleben zu können. Sonst erdrückt er dich eines Tages und bezwingt dich.“
Etwa anderthalb Stunden führt Tato die Reisegruppe über die Eismassen. Himmel und Eis gehen ineinander über. Tiefes Blau und strahlendes Weiß wechseln sich ab. „Dieses vollkommene Blau ergibt sich aus der Struktur der Eiskristalle“, erklärt er. Die
Eiskristalle sind prismenförmig aufgebaut. Kurzwelliges, blaues Licht wird dabei stärker gebrochen als langwelliges Licht. An Stellen, wo das Eis sehr dicht ist, erscheint der Gletscher wie ein einziger Kristall und zeigt sich auch hier in seiner tiefblauen Farbe. Ist der Gletscher extremen Wetterbedingungen wie der Sonne, starkem Wind und Regen ausgesetzt, zersetzen sich die Kristalle und das Licht wird gebrochen.
Den Perito Moreno erreicht man am besten von der Kleinstadt El Calafate aus. Mehrmals täglich landen dort Flugzeuge mit Touristen aus aller Welt. Von Buenos Aires sind es nur etwa drei Flugstunden. El Calafate schmiegt sich an die südliche Seite des Lago Argentino. In der archaischen Landschaft wirkt der Ort mit seinen bunten Holzhäusern freundlich, fast heiter. Hochsaison ist von Oktober bis Mai. Umgerechnet etwa 140 Euro kostet ein Tagesausflug von El Calafate zum Perito Moreno. Über eine halbe Million Quadratkilometer Steppe und unberührte Bergwelten schlängeln sich durch den südlichen Zipfel Argentiniens und die Ausläufer Chiles.
Wir kommen direkt aus der südlichsten Stadt der Welt, Ushuaia. Die Stadt ist nur etwa eineinhalb Flugstunden von El Calafate entfernt. Von dort kann man das antarktische Eis förmlich riechen. Neben Seelöwenkolonien und Kormoranen sind uns Scharen von Pinguinen begegnet. Mitunter sogar antarktische Königspinguine.
An die Pinguine muss ich denken, als wir in Reih und Glied unsere letzten Meter über das Eis tappen. Tato und sein Freund schenken Whiskey mit – natürlich – glasklarem Gletschereis ein. Er schmeckt ehrlich, klar und rein. Irgendwie hat man das Gefühl, etwas geschafft zu haben. Den Riesen bezwungen zu haben. Dass der Perito Moreno einer der letzten Gletscher ist, die konstant sind, kann einen in solchen Momenten fast traurig machen.
„Er ist eigentlich ein schwarzes Schaf unter den Gletschern“, erklärt Franz Neubauer, Geologe an der Universität Salzburg. In Europa gebe es keinen Gletscher wie ihn, der nicht zurückgeht. „Wir befinden uns in einem sogenannten Zwischeneiszeitalter“, sagt er. Seit 11.000 Jahren schmelzen die Gletscher. Eigentlich müsste nun wieder ein Eiszeitalter folgen. Forscher gehen derzeit davon aus, dass es aber nicht dazu kommen wird. Der Mensch arbeitet zu sehr dagegen.
Nur in El Calafate rund um den Perito Moreno scheinen die Uhren anders zu ticken. Täler, Berge und Gletscher leben hier in vermeintlich friedlicher Koexistenz. Die globale Erderwärmung kommt einem nur in den Sinn, wenn die Sonne wieder in der Nase kitzelt. Mehr als ein kurzes Shirt, eine Jeans und gutes Schuhwerk braucht man heute nicht auf dem Gletscher.
Unten angekommen, wartet schon ein Bus, der uns zur nächsten Station bringt: Ein Wegenetz aus Aussichtsplattformen, das den Perito Moreno säumt. Hier kann man aus der Vogelperspektive nochmals die volle Wucht des Gletschers aufsaugen. Zahlreiche Touristen verlieren sich in der Aussicht auf die Eismassen. Trotzdem entdeckt jeder für sich noch einmal sein eigenes Gletschererlebnis. Es zu teilen fällt nicht schwer. Im Gegenteil: Man möchte in die ganze Welt posaunen, welches Naturschauspiel sich hier ereignet. Wegen seiner Schönheit wurde der Nationalpark Los Glaciares, zu dem der Perito Moreno zählt, 1981 zum UNESCOWeltkulturerbe ernannt. „Patagonia magica“– magisches Patagonien – nennen die Einheimischen ihr Land. Bei so viel Magie kann der Mensch nur ehrfürchtig schweigen.