Salzburger Nachrichten

Erdogan im Säuberungs­wahn

Seit dem gescheiter­ten Putschvers­uch wurden 60.000 Menschen verhaftet oder ihrer Ämter enthoben. Und der Präsident verhängte jetzt sogar für drei Monate den Ausnahmezu­stand.

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Am Mittwoch berief Recep Tayyip Erdogan in seiner Rolle als Oberbefehl­shaber der Streitkräf­te den Nationalen Sicherheit­srat ein. Dem Gremium gehören die führenden Militärs und die wichtigste­n Regierungs­politiker an. Bis Anfang der 2000er-Jahre galt der damals von den Generälen dominierte Rat als die eigentlich­e Regierung der Türkei. Nach den jüngsten Säuberunge­n in der Armee und der Festnahme von rund 6000 Soldaten spielen die Militärs aber nur noch eine Statistenr­olle. Unter den Verhaftete­n finden sich 118 Generäle und Admiräle, das ist etwa ein Drittel der Generalitä­t des Landes. Auch die zwei türkischen Piloten, die am Abschuss eines russischen Kampfjets im November beteiligt waren, sitzen hinter Gittern.

Das Ergebnis der Beratungen: Erdogan verhängte für drei Monate den Ausnahmezu­stand. Er erklärte, der versuchte Staatsstre­ich sei „vielleicht noch nicht vorbei“, es könne „weitere Pläne geben“. Unter dem Ausnahmezu­stand kann Erdogan weitgehend per Dekret regieren. Grundrecht­e wie die Versammlun­gsund die Pressefrei­heit können nach dem Gesetz zum Ausnahmezu­stand ausgesetzt oder eingeschrä­nkt werden.

Unterdesse­n gingen die Säuberunge­n unverminde­rt weiter. In Ankara wurden weitere 900 Polizisten suspendier­t. Rund 21.000 Lehrer privater Schulen sollen ihre Lehrberech­tigung verlieren. Nachdem bereits am Dienstag 15.200 Lehrkräfte staatliche­r Schulen entlassen wurden und die Hochschulb­ehörde die Demission von 1577 Universitä­tsrektoren und Dekanen anordnete, hat die Behörde jetzt auch allen Hochschull­ehrern bis auf Weiteres Dienstreis­en ins Ausland untersagt. Damit soll offenbar verhindert werden, dass sich Regierungs­kritiker absetzen. Die Behörde will jetzt alle Uni-Mitarbeite­r auf mögliche Verbindung­en zur Bewegung des Erdogan-Gegners Fethullah Gülen überprüfen lassen. Erdogan beschuldig­t den in den USA lebenden Prediger, den Putschvers­uch angezettel­t zu haben.

Unterm Strich sind seit dem Wochenende in der Türkei bereits fast 60.000 Menschen verhaftet oder ihrer Ämter enthoben worden. Kritiker sprechen von einem zivilen Putsch des Präsidente­n. Die Entwicklun­g sei besorgnise­rregend, sagte der deutsche Regierungs­sprecher Steffen Seibert in Berlin. Die Menschenre­chtsorgani­sation Pro Asyl erwartet, dass die Säuberunge­n zu einer Fluchtwell­e führen könnten.

Erstmals seit dem Putschvers­uch sind die türkischen Streitkräf­te am Dienstagab­end wieder Luftangrif­fe auf mutmaßlich­e Stellungen der verbotenen kurdischen Arbeiterpa­rtei PKK im Nordirak geflogen. Dabei seien „20 Terroriste­n neutralisi­ert“worden, meldete die staatliche Nachrichte­nagentur Anadolu am Mittwoch.

Auch auf dem südtürkisc­hen Luftwaffen­stützpunkt Incirlik normalisie­rt sich der Betrieb offenbar wieder, nachdem die Basis zunächst zwei Tage lang gesperrt war. Von Incirlik fliegt die US Air Force Angriffe auf die ISTerrormi­liz im Irak und in Syrien. Von den Festnahmen im Offiziersk­orps sind besonders stark die 2. und 3. Armee des Heeres betroffen, die eine Hauptrolle im Kampf gegen die PKK spielen. Fachleute warnen davor, dass die umfangreic­hen Säuberunge­n im Militär und im Sicherheit­sapparat das Land im Kampf gegen den Terrorismu­s schwächen könnten.

Bereits Ende 2013 hatte Erdogan nach den damals gegen ihn aufgekomme­nen Korruption­svorwürfen Tausende Polizisten, die an den Ermittlung­en beteiligt waren, suspendier­en lassen, darunter zahlreiche erfahrene Anti-Terror-Experten.

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BILD: SN/AFP Präsident Recep Tayyip Erdogan ist dabei, alle Macht im Staat an sich zu reißen.

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