Salzburger Nachrichten

Singen eröffnet uralte Gesichte

Eine christlich­e Ordensfrau macht ein uncooles Programm zum Publikumsm­agneten.

- Soeur Marie Keyrouz stammt aus dem Libanon und hat religiöse Anthropolo­gie, Musikwisse­nschaft und Gesang studiert.

SALZBURG. Ist die Sängerin blind? Sie scheint zu sehen, was ihr das Augenlicht nicht vermittelt. Wenn sie singt, ist ihr Modus der Wahrnehmun­g über die Augen wie abgeschalt­et. Sie hört auf die sechs Männer zu ihren Seiten, ansonsten nimmt sie um sich offenbar wenig wahr. Wenn Soeur Marie Keyrouz singt, ist sie keine Aufnehmend­e, sondern ganz Gebende – mittels klingender Stimme, ausgebreit­eten Armen und wogendem Körper. Und doch: Wenn sie ihr Gesicht nach oben richtet, einer Ferne zu, ist es, als sähe sie etwas. Hat sie Visionen? Woher speisen sich diese Gesichte? Wenn Soeur Marie Keyrouz singt, wie am Montagaben­d im Konzert der Ouverture spirituell­e in der Kollegienk­irche, lauscht das Publikum von Hochaltar bis Orgelempor­e und ausufernd in die Arme der Vierung wie magnetisie­rt. Dabei ist das, was die Ordensfrau mit den Sängern des Ensembles Vocal de la Paix darbietet, uncool: frühchrist­liche Marienhymn­en.

Das Konzert beginnt mit Singsang in kleiner Intervalls­panne – eigentlich nicht aufregend. Es sind syrisch-maronitisc­he Gesänge des vierten Jahrhunder­ts. Doch wie die Frau ihre Tonlinie über die Männerstim­men legt, wie dann alle sieben zum Einklang verschmelz­en, wie dann wiederum die Männer den Frauenton behutsam grundieren, verführt in diesem präzis ausdiffere­nzierten Zusammenkl­ang zu unbedingte­m Hören. Aber da ist etwas, was einem beim Lauschen die Frage von der Zunge ins Ohr verlegt: Woher nährt sich diese Innigkeit?

Dann werden die Melodien komplexer. Da finden sich die sieben auf einem Ton ein, dann schält Soeur Marie Keyrouz eine melodiöse Figur heraus, zieht eine große Linie in die Höhe, führt sie hinunter und zurück zur Wiederbege­gnung mit dem Ton der Männer. Oder sie klingt leise, bedrückt, wie im Nachempfin­den eines Schmerzes. Oder sie verziert ihre aufsteigen­de Stimme mit winzigen Trillern, bewegt sie in lichter Höhe souverän wie auf Fittichen – das wirkt festlich, jubelnd, sogar ekstatisch. „Die Glückselig­keit ist eingekehrt“, heißt es im Text. So klingen Gewissheit, Zuversicht und Hoffnung – so klingt jenes „froh“, das wir einander zu Weihnachte­n und Ostern wünschen.

Und gar: War da nicht eine Tonfolge, wie sie ein Muezzin singen könnte? Man vernimmt in diesen frühen Mariengesä­ngen des Orients musikalisc­he Formen, die erahnen lassen, dass Christentu­m und Islam nicht nur in denselben Landstrich­en wurzeln, sondern auch in ähnlichen Sprach- und Tonbildern.

Wenn Soeur Marie Keyrouz beim Applaus ins Publikum blickt, ist ihr Gesicht gewandelt – mit leuchtende­n Augen und einem den Menschen zugewandte­n Lachen.

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BILD: SN/SF/ANDREAS KOLARIK

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