Die Insel, auf der die Träume stranden
Die preisgekrönte Doku „Seefeuer“zeigt, wie auf Lampedusa Alltag und Flüchtlingstragödien nebeneinander existieren.
Friedlicher Alltag, das Heranwachsen eines zwölfjährigen Fischersohns, ankommende Flüchtlinge und sinkende Boote: Das Nebeneinander von Tragödie und Pragmatismus auf der italienischen Insel Lampedusa ist haarsträubend. Dem italienischen Dokumentaristen Gianfranco Rosi gelingt mit „Seefeuer“eine eindringliche Mischform aus gewaltigem Dokumentarfilm und zartem Coming-ofAge. Bei der Berlinale gewann er dafür den Goldenen Bären. Jetzt kommt der Film ins Kino. SN: Sie haben diesen Film begonnen, bevor die ganz großen Flüchtlingstragödien geschehen sind. Wie sind Sie vorgegangen? Gianfranco Rosi: Wie Sie schon sagen: Als ich hinkam, gab es noch kein Anzeichen für das Ausmaß der Tragödien, die sich später ereignen würden, also konzentrierte ich mich zuerst auf die Insel selbst, dann erst auf die Flüchtlinge. Daher hat der Film zwei parallele Erzählstränge. Ich werde oft gefragt, was der Unterschied sei zwischen meinem Film und einem Nachrichtenreport über Immigration, aber das ist sehr einfach: Ich komme an einen Ort, an dem es ein Echo einer Tragödie gibt. Und ich beginne zu drehen ohne diese Tragödie, ohne jeden Lärm, mit ganz stillen Momenten. Und dann, langsam, bewegt sich der Film in eine Richtung. Im Herbst war ich dann auf einem Boot der Küstenwache dabei, als ein ganz großes Unglück passierte. Ich filmte, als Menschen vor mir starben, das, was Sie auch im Film sehen. Und das war für mich das Ende des Films, das hat für mich jede weitere Arbeit mit der Kamera verhindert, und ich habe mit dem Schnitt begonnen. SN: Wir kennen die Insel Lampedusa fast nur aus den Medien als Ankunftsort für Flüchtlinge. Wie war Ihr Zugang? Das Wichtigste für mich war, das Vertrauen der Leute dort zu gewinnen und ihnen klarzumachen, dass das nicht eine weitere Reportage werden sollte über die Probleme der Insel. Ich hatte jemanden aus Lampedusa an meiner Seite, der zu meinem Assistenten wurde, und er ermöglichte mir, die Leute dort wirklich kennenzulernen, mit ihnen zu leben und zu essen. Ich hab zehn Kilogramm zugenommen, weil auf Lampedusa ununterbrochen gegessen wird!
Ich bin allein beim Drehen, ich drehe wenig und mit einer kleinen Kamera, und ich drehe irgendwo an versteckten Orten auf der Insel oder daheim bei Leuten. Irgendwann kam eine große Filmcrew mit dreihundert Leuten auf Lampedusa, und auf der Straße sagten mir die Menschen, die mich schon kannten: „Gratuliere, Gianfranco, du fängst endlich mit dem Dreh an!“ Die waren baff, als sie gehört haben, dass ich längst mittendrin bin. SN: Im Film gibt es keine Verbindung zwischen der lampedusanischen Familie des kleinen Buben und den Flüchtlingen. Da ist nur der Hausarzt, der auch im Aufnahmezentrum die Menschen untersucht. Genau das ist auch die Realität auf Lampedusa, es gibt heute praktisch keine Begegnungen mehr. Vor vielen Jahren, vor dem Beginn von Mare Nostrum, vor Triton, vor Frontex, kamen die Boote direkt auf Lampedusa an. Die landeten nachts am Strand, und die Leute halfen ihnen, weil es keine Institution gab, die sich dafür verantwortlich fühlte. Dann, langsam, wurde das reglementierter. Und heute ist es so: Das Boot kommt im Hafen an, da ist die Polizei, die Flüchtlinge werden auf Krankheiten untersucht, dann kommen sie in einen Bus, werden weitergebracht ins Aufnahmezentrum, dort bleiben sie ein paar Tage, werden registriert mit Foto und Fingerabdrücken, und dann weitertransportiert aufs italienische Festland. Aber mit der lampedusanischen Bevölkerung gibt es keinen Kontakt mehr, das einzige Verbindungsglied zwischen diesen Welten ist der Doktor, und deswegen ist er auch so wichtig in meinem Film. SN: Der Film ist nicht nur dramatisch, sondern auch ästhetisch schön, obwohl Sie entsetzliche Dinge zeigen, jemand hat Ihren Film sogar „pornografisch“genannt. Können Sie verstehen, dass nicht alle das gut finden? Ich habe keine Kritik gehört. Aber ich nehme an, Sie meinen, weil ich Leichen zeige. Für mich ist das keine Ästhetisierung, ich nutze die Sprache des Kinos, mit Ton, Kamera, Licht. Wenn ich filme, dann filme ich, als würde ich eine fiktive Geschichte erzählen, verstehen Sie? Ich filme sehr präzis. Ich mag diesen pseudodokumentarischen Wackelstil nicht, der Wirklichkeit vermitteln soll, ich empfinde das als Fake. Ich will die wahre Bildsprache des Kinos nutzen. SN: Flüchtlinge sind heute in Europa ein allgegenwärtiges Thema, und auch im Kino . . . Nun, in Italien ist das im Grunde seit 20 Jahren so. Europa kommt erst jetzt drauf, und die Reaktion ist fürchterlich: „Wer sind diese Leute? Was wollen die?“Jetzt erst werden Fragen gestellt, aber die politischen Entscheidungen, die getroffen werden, sind schrecklich. Film: