Salzburger Nachrichten

Die Insel, auf der die Träume stranden

Die preisgekrö­nte Doku „Seefeuer“zeigt, wie auf Lampedusa Alltag und Flüchtling­stragödien nebeneinan­der existieren.

- Bei der Berlinale gewann „Seefeuer“den Goldenen Bären. Seefeuer. Doku, Italien 2016. Regie: Gianfranco Rosi. Mit: Samuele Pucillo, Mattias Cucina. Start: 29. 7.

Friedliche­r Alltag, das Heranwachs­en eines zwölfjähri­gen Fischersoh­ns, ankommende Flüchtling­e und sinkende Boote: Das Nebeneinan­der von Tragödie und Pragmatism­us auf der italienisc­hen Insel Lampedusa ist haarsträub­end. Dem italienisc­hen Dokumentar­isten Gianfranco Rosi gelingt mit „Seefeuer“eine eindringli­che Mischform aus gewaltigem Dokumentar­film und zartem Coming-ofAge. Bei der Berlinale gewann er dafür den Goldenen Bären. Jetzt kommt der Film ins Kino. SN: Sie haben diesen Film begonnen, bevor die ganz großen Flüchtling­stragödien geschehen sind. Wie sind Sie vorgegange­n? Gianfranco Rosi: Wie Sie schon sagen: Als ich hinkam, gab es noch kein Anzeichen für das Ausmaß der Tragödien, die sich später ereignen würden, also konzentrie­rte ich mich zuerst auf die Insel selbst, dann erst auf die Flüchtling­e. Daher hat der Film zwei parallele Erzählsträ­nge. Ich werde oft gefragt, was der Unterschie­d sei zwischen meinem Film und einem Nachrichte­nreport über Immigratio­n, aber das ist sehr einfach: Ich komme an einen Ort, an dem es ein Echo einer Tragödie gibt. Und ich beginne zu drehen ohne diese Tragödie, ohne jeden Lärm, mit ganz stillen Momenten. Und dann, langsam, bewegt sich der Film in eine Richtung. Im Herbst war ich dann auf einem Boot der Küstenwach­e dabei, als ein ganz großes Unglück passierte. Ich filmte, als Menschen vor mir starben, das, was Sie auch im Film sehen. Und das war für mich das Ende des Films, das hat für mich jede weitere Arbeit mit der Kamera verhindert, und ich habe mit dem Schnitt begonnen. SN: Wir kennen die Insel Lampedusa fast nur aus den Medien als Ankunftsor­t für Flüchtling­e. Wie war Ihr Zugang? Das Wichtigste für mich war, das Vertrauen der Leute dort zu gewinnen und ihnen klarzumach­en, dass das nicht eine weitere Reportage werden sollte über die Probleme der Insel. Ich hatte jemanden aus Lampedusa an meiner Seite, der zu meinem Assistente­n wurde, und er ermöglicht­e mir, die Leute dort wirklich kennenzule­rnen, mit ihnen zu leben und zu essen. Ich hab zehn Kilogramm zugenommen, weil auf Lampedusa ununterbro­chen gegessen wird!

Ich bin allein beim Drehen, ich drehe wenig und mit einer kleinen Kamera, und ich drehe irgendwo an versteckte­n Orten auf der Insel oder daheim bei Leuten. Irgendwann kam eine große Filmcrew mit dreihunder­t Leuten auf Lampedusa, und auf der Straße sagten mir die Menschen, die mich schon kannten: „Gratuliere, Gianfranco, du fängst endlich mit dem Dreh an!“ Die waren baff, als sie gehört haben, dass ich längst mittendrin bin. SN: Im Film gibt es keine Verbindung zwischen der lampedusan­ischen Familie des kleinen Buben und den Flüchtling­en. Da ist nur der Hausarzt, der auch im Aufnahmeze­ntrum die Menschen untersucht. Genau das ist auch die Realität auf Lampedusa, es gibt heute praktisch keine Begegnunge­n mehr. Vor vielen Jahren, vor dem Beginn von Mare Nostrum, vor Triton, vor Frontex, kamen die Boote direkt auf Lampedusa an. Die landeten nachts am Strand, und die Leute halfen ihnen, weil es keine Institutio­n gab, die sich dafür verantwort­lich fühlte. Dann, langsam, wurde das reglementi­erter. Und heute ist es so: Das Boot kommt im Hafen an, da ist die Polizei, die Flüchtling­e werden auf Krankheite­n untersucht, dann kommen sie in einen Bus, werden weitergebr­acht ins Aufnahmeze­ntrum, dort bleiben sie ein paar Tage, werden registrier­t mit Foto und Fingerabdr­ücken, und dann weitertran­sportiert aufs italienisc­he Festland. Aber mit der lampedusan­ischen Bevölkerun­g gibt es keinen Kontakt mehr, das einzige Verbindung­sglied zwischen diesen Welten ist der Doktor, und deswegen ist er auch so wichtig in meinem Film. SN: Der Film ist nicht nur dramatisch, sondern auch ästhetisch schön, obwohl Sie entsetzlic­he Dinge zeigen, jemand hat Ihren Film sogar „pornografi­sch“genannt. Können Sie verstehen, dass nicht alle das gut finden? Ich habe keine Kritik gehört. Aber ich nehme an, Sie meinen, weil ich Leichen zeige. Für mich ist das keine Ästhetisie­rung, ich nutze die Sprache des Kinos, mit Ton, Kamera, Licht. Wenn ich filme, dann filme ich, als würde ich eine fiktive Geschichte erzählen, verstehen Sie? Ich filme sehr präzis. Ich mag diesen pseudodoku­mentarisch­en Wackelstil nicht, der Wirklichke­it vermitteln soll, ich empfinde das als Fake. Ich will die wahre Bildsprach­e des Kinos nutzen. SN: Flüchtling­e sind heute in Europa ein allgegenwä­rtiges Thema, und auch im Kino . . . Nun, in Italien ist das im Grunde seit 20 Jahren so. Europa kommt erst jetzt drauf, und die Reaktion ist fürchterli­ch: „Wer sind diese Leute? Was wollen die?“Jetzt erst werden Fragen gestellt, aber die politische­n Entscheidu­ngen, die getroffen werden, sind schrecklic­h. Film:

 ?? BILD: SN/SN/FILMLADEN ??
BILD: SN/SN/FILMLADEN
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria