Österreichs größter Schatz
Trinkwasser in höchster Qualität gilt hierzulande als Selbstverständlichkeit. An einem verborgenen Ort in Niederösterreich wird deutlich, welch enormer Aufwand dafür nötig ist.
Die Luft flirrt in der Nachmittagshitze, das dürre Gras knistert im Wind. Viel Abwechslung für das Auge hat das flache Steinfeld südlich von Wien nicht zu bieten. Josef Rigler hält sich eine Hand vor das Gesicht, die andere zeigt zu einer Baumgruppe, die am Horizont flimmert. „Bis dorthin“, sagt Rigler und sorgt bei jedem, der die Geschichte das erste Mal hört, für Staunen. Nichts deutet darauf hin, dass rund einen Meter unter den Schuhsohlen des Abschnittsleiters der I. Wiener Hochquellenleitung einer der größten Trinkwasserspeicher der Welt sanft vor sich hingluckert: 134 Meter lang, 120 Meter breit und zehn Meter tief; Fassungsvermögen: 600.000 Kubikmeter.
Von dicken Betonwänden geschützt, rund um die Uhr bewacht und behütet wie ein kostbarer Schatz, ist diese unterirdische Kathedrale ein Symbol für den Umgang Österreichs mit seinem Trinkwasser. Kaum ein anderes Land verfügt nicht nur über derart qualitativ hochwertige Ressourcen, sondern auch über eine Hightech-Versorgung.
Bestes Beispiel dafür ist Wien: Eine Millionenstadt, aus deren Leitungen Quellwasser aus dem Hochgebirge sprudelt – und das seit fast eineinhalb Jahrhunderten. Nach Plänen des Geologen Eduard Suess wurde von 1869 bis 1873 die 90 Kilometer lange I. Wiener Hochquellenleitung erbaut, weil die stetig wachsende Kaiserhauptstadt mit ihren unzähligen Hausbrunnen eine Brutstätte für Seuchen geworden war.
Und da der Moloch nicht aufhören wollte zu wachsen, baute man ab 1900 die II. Wiener Hochquellenleitung. Während ihre Vorgängerin das Wasser aus dem Rax-Schneeberg-Gebiet bezog, zapfte sie die Quellen rund um den Hochschwab an und erreichte eine Länge von 180 Kilometern. Gemeinsam fördern die beiden Pipelines täglich bis zu 437.000 Kubikmeter Trinkwasser. Der durchschnittliche Tagesbedarf der Donau-Metropole beträgt 370.000 Kubikmeter.
Die Hochquellenleitungen sind längst zu Hochsicherheitstrakten geworden. Wird entlang der Fließstrecke auch nur das kleinste Türchen geöffnet, schlägt das System Alarm. Obwohl das Öffnen ohnehin nur mit Spezialschlüsseln gelingt. Es sind beeindruckende Mechanismen, die für den reibungslosen Transport der Wassermassen sorgen. All der Aufwand ergäbe jedoch keinerlei Sinn, hätte man in den Quellgebieten nicht für die nötigen Rahmenbedingungen gesorgt. Die Fläche jener Gründe, die Wien in den beiden Gebirgsregionen besitzt, ist noch einmal so groß wie die Bundeshauptstadt selbst. Ob 200 Schutzhütten mit Kanalisation, Komposttoiletten im Freien oder Erosionsvermeidung; es wird alles dafür getan, um eine Trübung der Quellen zu verhindern. Sogar die Kühe haben auf der Weide gleich mehrere Tränken. Hätten sie nur eine, würde dort der Boden derart zertrampelt, dass abermals die Gefahr von Abtragung und Auswaschung des Untergrunds bestünde. Die Humusschicht ist der wichtigste Reinigungsfilter. Deshalb werden Wald und Almen von den Förstern der Stadt Wien gehegt und gepflegt.
Josef Rigler steigt ein paar Stiegen hinunter, sperrt zwei schwere Eisentüren auf und betritt eine andere Welt. Kaum mehr als sechs Grad Celsius hat diese Welt, auch jetzt, wo knapp darüber Gluthitze die Landschaft aufbäckt. Riglers Stimme hallt mehrere Male in die Finsternis und lässt erahnen, welch ungeheure Dimensionen die Wasserkathedrale von Neusiedl am Steinfeld hat. Früher, erinnert sich der Abschnittsleiter, habe man die Qualität des Wassers mit Schaugläsern geprüft. Konnte man durch ein volles Glas die Zeitung lesen, war alles okay. Heute übernimmt das der Computer. Alle paar Minuten liefert er eine Analyse. Wird ein Grenzwert überschritten, wird das Wasser sofort aus der Versorgung ausgeschieden und abgeleitet.
24 Stunden braucht das Wasser, bis es von Schneeberg und Rax über natürliches Gefälle und ohne jegliche Pumpe bis nach Wien fließt. Erst dort wird ihm Chlordioxid zugesetzt. Notwendig wäre es zwar nicht, aber wenige Hundertstel Milligramm pro Liter müssen es dann doch sein – nur für den Fall. Anschließend verteilt es sich auf 3000 Kilometer Rohrleitungen, die nicht nur zu 30 Wasserbehältern und 12.000 Hydranten führen, sondern auch zu allen der rund 102.000 Wiener Häuser, wo es schließlich verbraucht wird.
Dort werden pro Person und Tag 44 Liter für Duschen und Baden aufgewendet, 40 Liter für die WCSpülung, 15 Liter fürs Wäschewaschen, neun Liter für die Körperpflege, acht fürs Putzen, sechs zum Geschirrspülen, fünf für den Garten und drei fürs Trinken und Kochen. 1000 Liter kosten übrigens 1,80 Euro. Ein Vierterl Hochquellwasser zwischendurch aus der Leitung kommt somit auf 0,045 Cent.