Politischer Opportunismus und unerfüllbare Wunschvorstellungen
Großbritannien sucht nach einem neuen Verhältnis zur EU. Rosinen picken geht auch nicht, der Zugang zum Binnenmarkt ist nicht gratis.
Die Auswirkungen des Brexit-Votums in Großbritannien bekommen wir alle zu spüren. Das Land wird möglicherweise in eine Rezession stürzen, die EU wird Wachstumseinbußen erleiden. Es gibt aber nicht nur wirtschaftliche Auswirkungen, sondern auch politische. Das Vereinigte Königreich – England, Schottland und Nordirland – befindet sich in einer existenziellen Krise: Schotten und Nordiren wollen in der EU bleiben, das ist aber mit dem Verbleib im Vereinigten Königreich unvereinbar.
Geradezu schockiert sein muss man über die politische Verantwortungslosigkeit der Anführer der Brexit-Kampagne. Den Austritt zu verlangen und keinen Plan zu haben, wie man ihn administrativ und rechtlich umsetzt, ist mehr als fahrlässig. Aber offenbar hat weder der eine (Boris Johnson) Skrupel, den Posten als Außenminister anzunehmen, noch der andere (Nigel Farage) als Abgeordneter im Parlament der von ihm gehassten EU zu bleiben. Kein Wunder, dass die neue Regierung vorläufig weder einen Austrittsantrag stellt noch genaue Vorstellungen über die künftigen Beziehungen zur EU hat, außer den Wunsch nach weiter freiem Zugang zum Binnenmarkt. Als Alternative werden die Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum, einer vertieften Freihandelszone, analog zu Norwegen, Island und Liechtenstein genannt, aber auch ein bilaterales Abkommen, wie es die Schweiz mit der EU hat. Für EWRLänder und die Schweiz ist der Zugang zum Binnenmarkt an Bedingungen geknüpft. Bedingungen, die das Brexit-Lager immer bekämpfte.
Auch für den EWR gelten die vier Grundfreiheiten des EU-Vertrags, auch die Personenverkehrsfreiheit. Entgegen den Behauptungen des Brexit-Lagers zeigen die Zahlen, dass ins Vereinigte Königreich in Relation zur Bevölkerung netto viel weniger Menschen aus anderen EULändern einwandern als etwa nach Norwegen, auch viel weniger als in die Schweiz. Ganz zu schweigen von Deutschland oder Österreich. Allerdings hat Großbritannien relativ viele Einwanderer von außerhalb der EU – das zu regulieren obliegt aber der britischen Regierung.
Schon wegen der Folgewirkungen kann die EU Großbritannien über bereits Zugestandenes hinaus (eingeschränkte Sozialleistungen für EU-Immigranten) keinen Sonderstatus im Vergleich zu den EWR-Ländern bieten. Ein anderes Argument des Brexit-Lagers war die „Wiedererlangung der Souveränität des Parlaments“. Doch laut EWR-Vertrag sind für den Binnenmarkt relevante Rechtsvorschriften (bei Norwegen zirka 75 Prozent) zu übernehmen.
Last but not least zahlen die EWR-Staaten wie auch die Schweiz ins EU-Budget ein. Dass in der Brexit-Kampagne da schamlos gelogen wurde, ist bekannt. Dass Großbritannien weniger zahlt als das wirtschaftlich schwächere Italien, blieb unerwähnt. Norwegen zahlt 0,16 Prozent seines BIP an die EU, bei Großbritannien sind es 0,25 Prozent. Pro Einwohner zahlt Norwegen aber deutlich mehr. Schwer vorstellbar, dass der EWR die neue Option ist. Und nur Rosinen picken ist undenkbar. Der Binnenmarkt wird auch für London nicht gratis sein.