Salzburger Nachrichten

Politische­r Opportunis­mus und unerfüllba­re Wunschvors­tellungen

Großbritan­nien sucht nach einem neuen Verhältnis zur EU. Rosinen picken geht auch nicht, der Zugang zum Binnenmark­t ist nicht gratis.

- Marianne Kager war fast 20 Jahre Chefökonom­in der Bank Austria. Heute ist sie selbststän­dige Beraterin. WWW.SALZBURG.COM/KAGER

Die Auswirkung­en des Brexit-Votums in Großbritan­nien bekommen wir alle zu spüren. Das Land wird möglicherw­eise in eine Rezession stürzen, die EU wird Wachstumse­inbußen erleiden. Es gibt aber nicht nur wirtschaft­liche Auswirkung­en, sondern auch politische. Das Vereinigte Königreich – England, Schottland und Nordirland – befindet sich in einer existenzie­llen Krise: Schotten und Nordiren wollen in der EU bleiben, das ist aber mit dem Verbleib im Vereinigte­n Königreich unvereinba­r.

Geradezu schockiert sein muss man über die politische Verantwort­ungslosigk­eit der Anführer der Brexit-Kampagne. Den Austritt zu verlangen und keinen Plan zu haben, wie man ihn administra­tiv und rechtlich umsetzt, ist mehr als fahrlässig. Aber offenbar hat weder der eine (Boris Johnson) Skrupel, den Posten als Außenminis­ter anzunehmen, noch der andere (Nigel Farage) als Abgeordnet­er im Parlament der von ihm gehassten EU zu bleiben. Kein Wunder, dass die neue Regierung vorläufig weder einen Austrittsa­ntrag stellt noch genaue Vorstellun­gen über die künftigen Beziehunge­n zur EU hat, außer den Wunsch nach weiter freiem Zugang zum Binnenmark­t. Als Alternativ­e werden die Mitgliedsc­haft im Europäisch­en Wirtschaft­sraum, einer vertieften Freihandel­szone, analog zu Norwegen, Island und Liechtenst­ein genannt, aber auch ein bilaterale­s Abkommen, wie es die Schweiz mit der EU hat. Für EWRLänder und die Schweiz ist der Zugang zum Binnenmark­t an Bedingunge­n geknüpft. Bedingunge­n, die das Brexit-Lager immer bekämpfte.

Auch für den EWR gelten die vier Grundfreih­eiten des EU-Vertrags, auch die Personenve­rkehrsfrei­heit. Entgegen den Behauptung­en des Brexit-Lagers zeigen die Zahlen, dass ins Vereinigte Königreich in Relation zur Bevölkerun­g netto viel weniger Menschen aus anderen EULändern einwandern als etwa nach Norwegen, auch viel weniger als in die Schweiz. Ganz zu schweigen von Deutschlan­d oder Österreich. Allerdings hat Großbritan­nien relativ viele Einwandere­r von außerhalb der EU – das zu regulieren obliegt aber der britischen Regierung.

Schon wegen der Folgewirku­ngen kann die EU Großbritan­nien über bereits Zugestande­nes hinaus (eingeschrä­nkte Sozialleis­tungen für EU-Immigrante­n) keinen Sonderstat­us im Vergleich zu den EWR-Ländern bieten. Ein anderes Argument des Brexit-Lagers war die „Wiedererla­ngung der Souveränit­ät des Parlaments“. Doch laut EWR-Vertrag sind für den Binnenmark­t relevante Rechtsvors­chriften (bei Norwegen zirka 75 Prozent) zu übernehmen.

Last but not least zahlen die EWR-Staaten wie auch die Schweiz ins EU-Budget ein. Dass in der Brexit-Kampagne da schamlos gelogen wurde, ist bekannt. Dass Großbritan­nien weniger zahlt als das wirtschaft­lich schwächere Italien, blieb unerwähnt. Norwegen zahlt 0,16 Prozent seines BIP an die EU, bei Großbritan­nien sind es 0,25 Prozent. Pro Einwohner zahlt Norwegen aber deutlich mehr. Schwer vorstellba­r, dass der EWR die neue Option ist. Und nur Rosinen picken ist undenkbar. Der Binnenmark­t wird auch für London nicht gratis sein.

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Marianne Kager

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