Salzburger Nachrichten

„Rein private Spirituali­tät ist mühsam“

Wo finden jene Menschen Sinn und Halt im Leben, die von den Kirchen enttäuscht sind und damit auch ihren konkreten religiösen Bezug verloren haben? Über neue Formen der Spirituali­tät – und an welche Grenzen sie stoßen.

- JOSEF BRUCKMOSER

Die Innsbrucke­r Psychologi­n Tatjana Schnell hat erforscht, wo sich Sinnquelle­n außerhalb religiöser Traditione­n finden.

SN: Frau Professor Schnell, die Kirchen sind leer geworden. Wie finden Menschen Sinn?

Schnell: Die Kirchen wurden leerer, aber herrscht in der Gesellscha­ft deshalb eine große Sinnkrise vor? Es sind keineswegs alle Menschen orientieru­ngslos, die nicht mehr in die Kirche gehen. Damit stellt sich die Frage: Was trägt die Menschen, wenn es nur für wenige die tradierte Religiosit­ät ist?

In unserer empirische­n Sinnforsch­ung hat sich gezeigt, dass Spirituali­tät eine von vielen Sinnquelle­n ist. Sie ist deshalb besonders interessan­t, weil sie einerseits eine starke Sinnquelle ist, aber anderersei­ts für viele Menschen mit psychische­n Problemen einhergeht.

SN: Welche wesentlich­en Sinnquelle­n haben Sie gefunden?

Wir sind auf sehr viele sinngebend­e Quellen gestoßen, die wir letztendli­ch auf 26 reduziert haben. Statistisc­h kann man diese Sinnquelle­n in fünf Dimensione­n einordnen:

– die vertikale Transzende­nz, die Überschrei­tung der Welt nach oben durch Religiosit­ät und Spirituali­tät;

– die horizontal­e Transzende­nz, eine diesseitig­e Selbstüber­schreitung z. B. durch Naturverbu­ndenheit oder soziales Engagement;

– die Selbstverw­irklichung, die Entwicklun­g eigener Potenziale;

– die Ordnung, also Tradition, Moral, Bodenständ­igkeit, Vernunft;

– das Wir- und Wohlgefühl; das heißt, sich selbst und den Menschen in der näheren Umgebung Gutes zu tun in Gemeinscha­ft, Entspannun­g, Wellness usw.

SN: Welche dieser fünf Dimensione­n ist vorrangig?

Nach den vorliegend­en Daten für Deutschlan­d sind es Moral, Fürsorge, Harmonie, persönlich­e Entwicklun­g und Gemeinscha­ft. Auf die fünf Dimensione­n übertragen heißt das, dass die Ordnung sowie das Wir- und Wohlgefühl am stärksten ausgeprägt sind. Dagegen ist die vertikale Selbsttran­szendenz am geringsten ausgeprägt. Religiosit­ät und Spirituali­tät sind für die wenigsten Menschen die Motivation, die das eigene Handeln beeinfluss­t. Wenn sie jedoch vorhanden sind, sind sie sehr starke Sinnquelle­n.

SN: Sie geben den Anteil der Atheisten in Deutschlan­d Ost mit zwölf Prozent an, in Westdeutsc­hland mit drei, in Österreich mit fünf Prozent. Sind das nicht extrem wenig?

Ja, das ist das Erstaunlic­he. Dass jemand sagt, es gibt keinen Gott, für mich ist die Welt rein materiell, das ist extrem selten. Die Menschen sind zwar nicht mehr kirchlich religiös, aber sie sind nicht grundsätzl­ich dagegen. Viele sagen, es ist gut, dass es Kirchen gibt, und ich würde gern dazugehöre­n, aber ich kann es nicht. Sie stoßen sich vor allem an der Institutio­n, an dem, was sozusagen alles hinten dranhängt.

SN: Welche Quelle trägt vorrangig zur Sinnerfüll­ung bei?

Die Generativi­tät, das heißt, so zu leben, dass ich etwas zum größeren Ganzen beitrage, dazu, dass die, die nach mir kommen, auch noch ein gutes Leben haben. Man kann generativ sein, indem man Kinder bekommt und erzieht oder indem man Jugendlich­e ausbildet oder indem man Kunst, Kultur und Werte vermittelt und Ähnliches mehr.

Wir machen Sinn an vier Erfahrunge­n fest: an Zugehörigk­eit zu etwas, das größer ist als ich selbst; an Bedeutsamk­eit – was ich tue, hat Konsequenz­en; an Orientieru­ng – ich weiß, wo es hingeht; und an Kohärenz – das Ganze passt für mich zusammen. Wenn ich nun etwas für andere tue, mich also generativ verhalte, dann entsteht genau dadurch Sinn: Ich tue etwas für die Menschheit, für die Natur – dadurch fühle ich mich bedeutsam; ich tue es für andere – dadurch fühle ich mich zugehörig; und es geht in eine klare Richtung – ich habe eine Orientieru­ng, mein Tun hat Konsequenz­en.

Rein gedanklich ist Sinn schwer zu finden; er entsteht tatsächlic­h erst in der Umsetzung, im Tun.

SN: Wie passt diese fürsorgend­e Haltung damit zusammen, dass der Narzissmus zunimmt?

Tatsächlic­h geht es in Lifestyle-Magazinen oder in Coachingpr­ogrammen vorrangig um die Selbstopti­mierung. Aber sehr viele Studien belegen, dass genau diese Selbstopti­mierung nicht glücklich macht und nicht sinnstifte­nd ist.

SN: Warum erscheint dieses Modell dann so erstrebens­wert?

Ein Hintergrun­d ist wohl unser genereller Lernprozes­s, dass wir immer mehr beherrsche­n, kontrollie­ren und leisten können. Wir können mehr Krankheite­n besiegen, haben mehr Informatio­nen verfügbar, können effiziente­r arbeiten.

Dieses Immer-Mehr hat sich ganz unwillkürl­ich auch auf die Persönlich­keitsentwi­cklung übertragen: Wenn es noch besser ginge – warum sollten wir dann hier haltmachen? Die meisten Menschen sagen zwar, da laufe etwas schief, wenn alles nur noch um Effizienz und Profit gehe und man immer perfekt sein müsse. Aber gleichzeit­ig spüren sie, dass es extrem schwierig ist, aus diesem System auszusteig­en, weil alles miteinande­r vernetzt ist – von der Verantwort­lichkeit für die Kinder über finanziell­e Anforderun­gen bis zu dem Gefühl, dass ich mich immer weiter optimieren muss, damit ich nicht arbeitslos werde.

SN: Was macht dann im Unterschie­d zum Narzissten einen spirituell­en Menschen aus?

Die Überzeugun­g, dass es mehr als das Materielle gibt. Es gibt eine höhere Macht, die mein Leben bedeutsam macht, an die ich auch Verant- wortung abgeben kann. Allerdings ist Spirituali­tät ein sehr weiter Begriff. Daher haben wir versucht zu erforschen, welche Dimensione­n von Spirituali­tät der psychische­n Gesundheit dienen und welche schädlich sind. Dabei zeigte sich, dass sich Spirituali­tät allein – sei sie religiös, esoterisch, außersinnl­ich – nicht auf die Gesundheit auswirkt. Sie ist nur dann förderlich, wenn sie sinnstifte­nd wirkt, wenn sie einen handlungsl­eitenden und integriere­nden Wert im Leben darstellt.

SN: Gibt es auch eine Spirituali­tät, die nicht sinnstifte­nd ist, sondern mit psychische­n Problemen und Störungen einhergeht?

Vermehrte psychische Probleme finden wir vor allem bei Menschen, die sagen, ich bin spirituell, aber nicht religiös. Dafür scheint es zwei Interpreta­tionsmögli­chkeiten zu geben. Entweder es handelt sich um Menschen, die psychisch instabil sind und sich einer höheren Macht zuwenden möchten, aber von der Kirche nichts erwarten oder schlechte Erfahrunge­n mit ihr gemacht haben. Sie wenden sich dann Angeboten z. B. auf dem Esoterikma­rkt zu, ohne dadurch aber Halt oder Heilung zu finden.

Die zweite Interpreta­tion ist, dass eine Spirituali­tät, die sich von jeder Religiosit­ät abgekoppel­t hat, sehr frei fluktuiere­nd ist. Es gibt Hunderte Angebote, Gurus und vieles, was man nutzen oder kaufen kann. Aber es gibt keine gewachsene­n Strukturen, in die das alles eingebette­t wäre. Man muss immer selbst aktiv sein, muss alles selbst auswählen und bleibt damit stets auf sich selbst verwiesen. Dadurch wird es schwierig, das zu finden, was wir als sinnstifte­nd erkannt haben: Zugehörigk­eit, Bedeutsamk­eit, Orientieru­ng und Kohärenz.

SN: Eine rein selbst gestrickte Spirituali­tät funktionie­rt nicht?

Manche können gut damit leben. Aber alle Forschungs­ergebnisse deuten darauf hin, dass es schwierig ist. Überdurchs­chnittlich viele Menschen schaffen es nicht, mit einer solchen privaten Spirituali­tät seelisch stabil zu leben.

Tatjana Schnell ist Professori­n am Institut für Psychologi­e der Universitä­t Innsbruck. Ihre Arbeitssch­werpunkte sind Persönlich­keitspsych­ologie und empirische Sinnforsch­ung. Das Interview geht auf einen Vortrag am Viktor-Frankl-Zentrum Wien zurück.

„Sinn entsteht im Tun für andere.“Tatjana Schnell, Psychologi­n, Innsbruck

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BILD: SN/EVA MARIA GRIESE Manche finden in der Meditation ihren spirituell­en Weg.
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