„Rein private Spiritualität ist mühsam“
Wo finden jene Menschen Sinn und Halt im Leben, die von den Kirchen enttäuscht sind und damit auch ihren konkreten religiösen Bezug verloren haben? Über neue Formen der Spiritualität – und an welche Grenzen sie stoßen.
Die Innsbrucker Psychologin Tatjana Schnell hat erforscht, wo sich Sinnquellen außerhalb religiöser Traditionen finden.
SN: Frau Professor Schnell, die Kirchen sind leer geworden. Wie finden Menschen Sinn?
Schnell: Die Kirchen wurden leerer, aber herrscht in der Gesellschaft deshalb eine große Sinnkrise vor? Es sind keineswegs alle Menschen orientierungslos, die nicht mehr in die Kirche gehen. Damit stellt sich die Frage: Was trägt die Menschen, wenn es nur für wenige die tradierte Religiosität ist?
In unserer empirischen Sinnforschung hat sich gezeigt, dass Spiritualität eine von vielen Sinnquellen ist. Sie ist deshalb besonders interessant, weil sie einerseits eine starke Sinnquelle ist, aber andererseits für viele Menschen mit psychischen Problemen einhergeht.
SN: Welche wesentlichen Sinnquellen haben Sie gefunden?
Wir sind auf sehr viele sinngebende Quellen gestoßen, die wir letztendlich auf 26 reduziert haben. Statistisch kann man diese Sinnquellen in fünf Dimensionen einordnen:
– die vertikale Transzendenz, die Überschreitung der Welt nach oben durch Religiosität und Spiritualität;
– die horizontale Transzendenz, eine diesseitige Selbstüberschreitung z. B. durch Naturverbundenheit oder soziales Engagement;
– die Selbstverwirklichung, die Entwicklung eigener Potenziale;
– die Ordnung, also Tradition, Moral, Bodenständigkeit, Vernunft;
– das Wir- und Wohlgefühl; das heißt, sich selbst und den Menschen in der näheren Umgebung Gutes zu tun in Gemeinschaft, Entspannung, Wellness usw.
SN: Welche dieser fünf Dimensionen ist vorrangig?
Nach den vorliegenden Daten für Deutschland sind es Moral, Fürsorge, Harmonie, persönliche Entwicklung und Gemeinschaft. Auf die fünf Dimensionen übertragen heißt das, dass die Ordnung sowie das Wir- und Wohlgefühl am stärksten ausgeprägt sind. Dagegen ist die vertikale Selbsttranszendenz am geringsten ausgeprägt. Religiosität und Spiritualität sind für die wenigsten Menschen die Motivation, die das eigene Handeln beeinflusst. Wenn sie jedoch vorhanden sind, sind sie sehr starke Sinnquellen.
SN: Sie geben den Anteil der Atheisten in Deutschland Ost mit zwölf Prozent an, in Westdeutschland mit drei, in Österreich mit fünf Prozent. Sind das nicht extrem wenig?
Ja, das ist das Erstaunliche. Dass jemand sagt, es gibt keinen Gott, für mich ist die Welt rein materiell, das ist extrem selten. Die Menschen sind zwar nicht mehr kirchlich religiös, aber sie sind nicht grundsätzlich dagegen. Viele sagen, es ist gut, dass es Kirchen gibt, und ich würde gern dazugehören, aber ich kann es nicht. Sie stoßen sich vor allem an der Institution, an dem, was sozusagen alles hinten dranhängt.
SN: Welche Quelle trägt vorrangig zur Sinnerfüllung bei?
Die Generativität, das heißt, so zu leben, dass ich etwas zum größeren Ganzen beitrage, dazu, dass die, die nach mir kommen, auch noch ein gutes Leben haben. Man kann generativ sein, indem man Kinder bekommt und erzieht oder indem man Jugendliche ausbildet oder indem man Kunst, Kultur und Werte vermittelt und Ähnliches mehr.
Wir machen Sinn an vier Erfahrungen fest: an Zugehörigkeit zu etwas, das größer ist als ich selbst; an Bedeutsamkeit – was ich tue, hat Konsequenzen; an Orientierung – ich weiß, wo es hingeht; und an Kohärenz – das Ganze passt für mich zusammen. Wenn ich nun etwas für andere tue, mich also generativ verhalte, dann entsteht genau dadurch Sinn: Ich tue etwas für die Menschheit, für die Natur – dadurch fühle ich mich bedeutsam; ich tue es für andere – dadurch fühle ich mich zugehörig; und es geht in eine klare Richtung – ich habe eine Orientierung, mein Tun hat Konsequenzen.
Rein gedanklich ist Sinn schwer zu finden; er entsteht tatsächlich erst in der Umsetzung, im Tun.
SN: Wie passt diese fürsorgende Haltung damit zusammen, dass der Narzissmus zunimmt?
Tatsächlich geht es in Lifestyle-Magazinen oder in Coachingprogrammen vorrangig um die Selbstoptimierung. Aber sehr viele Studien belegen, dass genau diese Selbstoptimierung nicht glücklich macht und nicht sinnstiftend ist.
SN: Warum erscheint dieses Modell dann so erstrebenswert?
Ein Hintergrund ist wohl unser genereller Lernprozess, dass wir immer mehr beherrschen, kontrollieren und leisten können. Wir können mehr Krankheiten besiegen, haben mehr Informationen verfügbar, können effizienter arbeiten.
Dieses Immer-Mehr hat sich ganz unwillkürlich auch auf die Persönlichkeitsentwicklung übertragen: Wenn es noch besser ginge – warum sollten wir dann hier haltmachen? Die meisten Menschen sagen zwar, da laufe etwas schief, wenn alles nur noch um Effizienz und Profit gehe und man immer perfekt sein müsse. Aber gleichzeitig spüren sie, dass es extrem schwierig ist, aus diesem System auszusteigen, weil alles miteinander vernetzt ist – von der Verantwortlichkeit für die Kinder über finanzielle Anforderungen bis zu dem Gefühl, dass ich mich immer weiter optimieren muss, damit ich nicht arbeitslos werde.
SN: Was macht dann im Unterschied zum Narzissten einen spirituellen Menschen aus?
Die Überzeugung, dass es mehr als das Materielle gibt. Es gibt eine höhere Macht, die mein Leben bedeutsam macht, an die ich auch Verant- wortung abgeben kann. Allerdings ist Spiritualität ein sehr weiter Begriff. Daher haben wir versucht zu erforschen, welche Dimensionen von Spiritualität der psychischen Gesundheit dienen und welche schädlich sind. Dabei zeigte sich, dass sich Spiritualität allein – sei sie religiös, esoterisch, außersinnlich – nicht auf die Gesundheit auswirkt. Sie ist nur dann förderlich, wenn sie sinnstiftend wirkt, wenn sie einen handlungsleitenden und integrierenden Wert im Leben darstellt.
SN: Gibt es auch eine Spiritualität, die nicht sinnstiftend ist, sondern mit psychischen Problemen und Störungen einhergeht?
Vermehrte psychische Probleme finden wir vor allem bei Menschen, die sagen, ich bin spirituell, aber nicht religiös. Dafür scheint es zwei Interpretationsmöglichkeiten zu geben. Entweder es handelt sich um Menschen, die psychisch instabil sind und sich einer höheren Macht zuwenden möchten, aber von der Kirche nichts erwarten oder schlechte Erfahrungen mit ihr gemacht haben. Sie wenden sich dann Angeboten z. B. auf dem Esoterikmarkt zu, ohne dadurch aber Halt oder Heilung zu finden.
Die zweite Interpretation ist, dass eine Spiritualität, die sich von jeder Religiosität abgekoppelt hat, sehr frei fluktuierend ist. Es gibt Hunderte Angebote, Gurus und vieles, was man nutzen oder kaufen kann. Aber es gibt keine gewachsenen Strukturen, in die das alles eingebettet wäre. Man muss immer selbst aktiv sein, muss alles selbst auswählen und bleibt damit stets auf sich selbst verwiesen. Dadurch wird es schwierig, das zu finden, was wir als sinnstiftend erkannt haben: Zugehörigkeit, Bedeutsamkeit, Orientierung und Kohärenz.
SN: Eine rein selbst gestrickte Spiritualität funktioniert nicht?
Manche können gut damit leben. Aber alle Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass es schwierig ist. Überdurchschnittlich viele Menschen schaffen es nicht, mit einer solchen privaten Spiritualität seelisch stabil zu leben.
Tatjana Schnell ist Professorin am Institut für Psychologie der Universität Innsbruck. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Persönlichkeitspsychologie und empirische Sinnforschung. Das Interview geht auf einen Vortrag am Viktor-Frankl-Zentrum Wien zurück.
„Sinn entsteht im Tun für andere.“Tatjana Schnell, Psychologin, Innsbruck