Warum Naturheilmittel unterschiedlich wirken
Schon beim Spaziergang im Wald spürt man, dass Pflanzen und Bäume heilsame Stoffe freisetzen. Wie hilfreich sind diese als Arzneimittel?
Der habilitierte Biochemiker Florian Überall arbeitet am Centrum für Chemie und Biomedizin der Medizin-Uni Innsbruck. Im SN-Gespräch erläutert Überall die Wirkmechanismen flüchtiger, aber auch fester pflanzlicher Arzneimittel. SN: Sie spannen einen weiten Bogen von den Biowissenschaften bis zur tibetischen Medizin. Wo sehen Sie denn da den Zusammenhang? Überall: Für mich ist die grundlegende Frage, wie man den Menschen durch Naturstoffe und Lebensmittel gesund erhalten beziehungsweise eingreifen kann, wenn Befindlichkeitsstörungen auftreten. Dabei ist fernöstliches Traditionswissen hilfreich, wir haben aber auch in unserem Kulturraum seit Jahrhunderten pflanzenheilkundliches Wissen, in der Klostermedizin oder durch private Überlieferung.
Im Unterschied zu traditionellen Medizinformen Asiens hat die westliche Wissenschaft die Fähigkeit entwickelt, molekulare Zusammenhänge aufzuklären. Wir können viel tiefer in Zellereignisse sehen und ihre Zustände beschreiben bzw. Veränderungen beobachten.
Dennoch bleibt unser Bild einer ganzheitlichen, vielstofflichen Wirkung von Pflanzeninhaltsstoffen unscharf. Vielleicht sollten wir auch die Fragen zuerst anders stellen: Wo kommen diese Stoffe in der Pflanze her, welche „Motive“hat die Pflanze, diese zu erzeugen? Und erst dann die Fragen zur Gewinnung durch den Menschen und zur Verwendung dieser Stoffe. SN: Warum erzeugt die Pflanze diese Wirkstoffe? Diese „sekundären Pflanzenstoffe“sind gleichsam die „Hausapotheke“der Pflanze. Sie produziert diese nicht für ihr Wachstum, sondern für ihre Standortsicherung: um Schädlinge loszuwerden oder sich gegen Frost oder Trockenheit zu schützen. Viele dieser Pflanzenstoffe sind flüchtige, organische Verbindungen, welche die Pflanze wie eine Gaswolke in die Umgebung freisetzt. Das erinnert an eine gemeinsame Sprache, an eine nicht verbale Kommunikation der Pflanzen mit ihrer Umgebung. Das geht aber auch über die Wurzel als gelöster Feststoff. Unter einem Nussbaum finden Sie nie einen anderen Baum. Der Nussbaum setzt Gerbstoffe in den Boden frei und schafft sich dadurch eine Freizone. SN: Die Pflanzen verständigen sich durch Botenstoffe, die dem Menschen guttun? Jeder von uns hat das schon Tausende Male im Wald erfahren, dieses Gefühl der „Biophilia“, den Einfluss der Pflanze auf die Befindlichkeit und das Gemüt. Das kann von Nadeln sein, die ätherische Öle freisetzen, oder von den Blättern oder auch von der Verdunstungskälte durch den Temperaturunterschied.
Wir reagieren auf diese Phänomene. Es ändert sich die Herzratenvariabilität, unser Pulsschlag, ja es kann durch diese flüchtigen Pflan- zeninhaltsstoffe sogar zu einer Veränderung im Hormonhaushalt kommen. Das wirkt sich auf die Stressweiterleitung aus und vermutlich auch auf unsere Psyche. Außerdem verändert sich in dieser Stille, die ja keine absolute Stille ist, die Wahrnehmung: Ich höre einen Ast unter meinem Tritt knacksen, ich höre einen Vogelruf und bin somit tief mit der Natur verbunden. SN: Wie werden diese Stoffe, die die Pflanzen abgeben, zum Heilmittel? In der Regel werden solche Stoffe – denken Sie an die Enzianwurzel, die Arnika oder den Beinwell – durch heißes Wasser oder Alkohol als Lösungsmittel verarbeitet. Aber Omas Sauerkraut wurde anders zubereitet: durch Fermentierung. Darunter versteht man die verbesserte Freisetzung und den Oxidationsschutz der arzneilichen Inhaltsstoffe durch die Zugabe von Milchsäurebakterien. Auf diese Art kann man auf den Alkohol verzichten. Dadurch kann die Impulskraft der Pflanze in einer Flüssigkeit genutzt werden, die sich selbst konserviert. SN: Das ist aber noch kein Medikament. Nein, es ist eine vernünftige, schonende Darreichungsform pflanzlicher Stoffe ohne Alkohol. Dazu muss man aber auch bedenken, dass wir in der Pflanze keinen Reinstoff haben, so wie in Medikamenten, sondern eine komplexe Mischung unterschiedlicher Komponenten. Diese können einander wechselseitig verstärken, unter Umständen aber auch stören.
Entscheidend scheint mir, dass pflanzliche Rezepturen wesentlich weniger Nebenwirkungen aufweisen als synthetische Arzneimittel, weil die gelösten Stoffe in pflanzlichen Mitteln gering sind – hochgiftige Alkaloide einmal ausgespart. SN: Wie weit sind Zusammenhänge zwischen Krankheiten und Pflanzenstoffen erwiesen? Ehrlicherweise muss man sagen, dass es sehr schwierig ist, eine pflanzliche Rezeptur zu standardisieren. Die Wirkstoffe in einer Pflanze sind nicht zu jeder Jahreszeit und nicht in jedem Jahr gleich.
Ein wichtiger Faktor ist auch die Bioverfügbarkeit, also wie viel von den Wirkstoffen der jeweilige Organismus aufnehmen kann. Das kann sehr unterschiedlich sein, weil die Wirkung von Heilmitteln eine sehr persönliche ist – wie ein Fingerabdruck. Ein Beispiel: 100 Probanden trinken den gleichen Rotwein. Sucht man dann in ihrem Serum nach Stoffen, die charakteristisch für Rotwein sind, sieht man, dass die Aufnahme dieser Stoffe bei jedem Probanden unterschiedlich ist. Das heißt, die Bioverfügbarkeit war unterschiedlich, weil die Darmflora unterschiedlich ist und die Organe, die solche Wirkstoffe aufschließen, unterschiedlich reagieren. SN: Wäre letztlich ein genetisches Profil notwendig, um zu klären, was welchem Menschen hilft? Das ist notwendig, um erkennen zu können, ob und wie eine Person auf Substanzen oder Substanzgruppen anspricht, ob sie auf einen Naturstoff anspricht oder nicht und ob ihr Körper in der Lage ist, diesen rasch zu verwerten.
Der Grund dafür ist, dass der Körper einen sehr klugen Schutzmechanismus entwickelt hat, der zunächst alles Fremde abwehrt. Der Organismus möchte zum Beispiel alles, was ihm unlöslich erscheint, sofort über die Niere loswerden. Er versucht daher, diesen Stoff molekular so umzubauen, dass er gut wasserlöslich wird.
Wichtig zu wissen ist auch, dass ein Arzneimittel zur Senkung hoher Cholesterinwerte und Grapefruitsaft nicht zusammenpassen. Ebenso ist eine unmittelbar gleichzeitige Einnahme von Tumortherapeutika und pflanzlichen Substanzen unklug. Gift muss wirken. Anders sieht es dann zwischen den jeweiligen Zyklen einer Therapie aus.