Und wieder bebte die Erde in Mittelitalien
Die Bewohner der betroffenen Regionen durchleben seit zwei Monaten einen Albtraum. Doch ein Ende der Beben scheint nicht in Sicht.
Zwei Monate und zwei Tage oder gut dreißig Kilometer Luftlinie von Süden nach Norden liegen zwischen den Epizentren der jüngsten verheerenden Erdbeben in Mittelitalien. Am Mittwochabend um 19.11 Uhr hatte die Wucht eines Erdstoßes von 5,4 Grad auf der Richterskala die Illusion zerstört, dass nach den zahllosen Nachbeben seit dem 24. August im Grenzgebiet der Regionen Marken und Umbrien Ruhe einkehren und sich alles auf den Wiederaufbau konzentrieren würde. Zwischen den beiden Katastrophen gibt es aber einen entscheidenden Unterschied: Während im Sommer in und um Amatrice 296 Menschen zu Tode gekommen waren, gab es bisher keine Toten unter den Trümmern. Ein älterer Mann starb aber an einem Herzinfarkt.
Fast die komplett verbliebene Bevölkerung stürzte am Mittwochabend bei strömendem Regen auf die Straße. Das rettete viele Menschenleben. Denn um 21.18 Uhr erfolgte ein noch stärkerer Erdstoß. Viele Gebäude stürzten ein. „Achtzig Prozent unserer Häuser sind unzugänglich“, berichtete Marco Rinaldi, Bürgermeister des 400-Seelen-Ortes Ussita, der in dieser Jahreszeit von der großen Masse der Zweitwohnungsbesitzer verlassen ist. Rinaldi sprach von einem „schweren psychologischen Schlag“. Ähnlich berichtete sein Amtskollege Mauro Falcucci aus Castelsantangelo sul Nera, nach dem 24. August habe man viel Hilfe erhalten und gehofft, durchhalten zu können. „Aber jetzt schaffen wir es nicht mehr“, sagte Falcucci. „Was wir brauchen, ist, dass das Beben aufhört.“Doch das dürfte nicht der Fall sein: Bis Donnerstagnachmittag gab es rund 200 Nachbeben. Die Erdstöße am Mittwoch wurden in weiten Teilen Italiens von Neapel bis in den Norden und selbst in Österreich wahrgenommen.
Die Zahl der neuen Obdachlosen ist noch nicht klar, nach Medienberichten dürften bis zu 3000 Menschen betroffen sein. Die meisten sollen in Hotels untergebracht werden. Zeltstädte sollen angesichts der fortgeschrittenen Jahreszeit nicht mehr errichtet werden.
Das jüngste Erdbeben ist nicht überraschend gekommen, war auch in seinen Dimensionen von den Seismologen des Nationalinstituts für Geophysik und Vulkanologie (Ingv) nach dem Beben von Amatrice im August prognostiziert worden. „In Kürze könnten weitere Erdbeben passieren“, heißt es in einem Dokument des Zivilschutzes.
Die Fachleute sind sich einig, dass es eine Verbindung zu dem Beben von vor zwei Monaten gibt, dass aber auch durch eine Absenkung des Apennin im Untergrund eine neue Verwerfung entstanden ist, die neue enorme Spannungen verursacht hat. Wann sich diese mit Erdstößen Bahn brechen, können die Experten trotz ihrer verfeinerten Messinstrumente nicht voraussagen. Dass die Verantwortlichen vor dem Erdbeben von L’Aquila im April 2009 in ihrer Unsicherheit die Bevölkerung nicht gewarnt hatten, hat ihnen viel Kritik und auch Strafprozesse eingetragen.
Siebzig Prozent des italienischen Baubestands sind noch nicht nach geltenden Erdbebenregeln gebaut „Alle fünf Jahre passiert ein verheerendes Erdbeben“, schimpfte Massimo Cialente, der streitbare Bürgermeister von L’Aquila. „Es ist unvorstellbar, dass nicht das ganze Land in Sicherheit gebracht wird.“Anderswo ereigneten sich Erdbeben von 6,0 und es gebe dabei nicht einmal Tote und Schäden, sagte Cialente. Im August hat Premier Matteo Renzi ein ehrgeiziges Langzeitprogramm für die künftige Vorsorge versprochen. Eine echte Wende? Einen schönen Namen hat dieses Programm schon mal: „Casa Italia“.