Welchen Sinn hat die EU?
Die Europäische Union ist in eine fundamentale Krise geraten. Frieden und wirtschaftlicher Aufschwung waren einmal die sinnstiftenden Elemente. Jetzt sind neue Inhalte gefragt.
SALZBURG. Die EU hat mehrere Gesichter. Die Erfolgsgeschichte (Frieden, Wohlstand), den bürokratischen Pragmatismus (jeden Tag ein Gesetz, Gurkenkrümmung) und die regelmäßige Abfolge von Krisen (Eurokrise, Flüchtlingskrise). Bisher sei sie aus jeder Problemphase gestärkt hervorgegangen. Doch jetzt befinde sie sich in einer Sinnkrise. „Wozu brauchen wir die EU überhaupt?“, fragte der deutsche Politikwissenschafter Werner Weidenfeld am Donnerstag in Salzburg.
Der Berater der deutschen Bundesregierung und mehrerer US-Präsidenten beschrieb den Ablauf so: Zuerst taucht die Krise auf, wenn sie groß genug ist, entsteht Problemdruck, daraufhin setzt ein Lernprozess ein, an dessen Ende die Lösung steht. Doch dieses Schema, so Weidenfeld, funktioniere immer seltener. Stattdessen tauche immer stärker die Sinnfrage auf. „Doch darauf bekommen wir keine Antwort.“
Das Nachkriegsprojekt Europa als Hort des Friedens ziehe heute nicht mehr. Der von dem ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors angepeilte Binnenmarkt als großer Sinnstifter sei umgesetzt. „Jetzt fehlt der strategische Entwurf, wie es weitergehen soll.“
Weidenfeld war einer der Redner bei der Auftaktveranstaltung zum Projekt „Next Europe“, die im SNSaal über die Bühne ging. 1900 Mitglieder der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste arbeiten dabei an einer sinngebenden Erzählung, einem neuen Narrativ für die EU. Der Präsident der Akademie, Felix Unger, beschwor in seiner Begrüßung den „Glauben an die EU“. Dieser sei die Voraussetzung für die Weiterentwicklung der Union. Doch er sei derzeit abhandengekommen. Unger nannte als Gründe unter anderem: die mangelnde Transparenz (CETA, TTIP), fehlende demokratische Legitimation (Kommission), keine Konzepte zur Lösung des Migrationsthemas.
Im Befund waren sich die Podiumsteilnehmer einig. Doch wie da herausfinden? Weidenfeld sprach vom Zeitalter der Komplexität und der Konfusion. Die EU müsse Orientierung bieten, die komplexen Zusammenhänge erklären. Dazu müsse sie „Smart Power“entwickeln. Doch das gehe nur mit Führung. Die vermisst der Politikwissenschafter.
Er erzählte eine Episode über die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU im Jahr 2012. Zuerst freuten sich alle darüber. Dann erklärten gleich drei Personen an der Spitze der EU, den Preis entgegennehmen zu wollen. Der Zank, wer die prestigeträchtige Trophäe zuerst in Händen halten durfte, währte „praktisch bis zur Sekunde der Überreichung“. Dazu passt die Henry Kissinger zugeschriebene Aussage, er würde ja gern mit der EU sprechen, doch er wisse nicht, wen er anrufen solle. Trotz mehrerer Versuche, die Institutionen Rat, Parlament und Kommission neu aufzustellen, gibt es diese eine Telefonnummer noch immer nicht.
Der Wiener Historiker Wolfgang Schmale macht einen konkreten Vorschlag, um Europa den Bürgern wieder näherzubringen: „Demokratie 3.0.“Die Zeit der reinen repräsentativen Demokratie sei vorbei, es reiche auch nicht mehr aus, die Bürger da und dort mitreden zu lassen (partizipative Demokratie). Schmale schlug vor, allen EU-Bürgern, die in einem Land ihren Wohnsitz haben, die Wahlberechtigung zu erteilen. Und zwar für alle Wahlen. Derzeit dürfen sie auf nationaler Ebene nur bei Kommunalwahlen ihre Stimme abgeben. „Das brächte einen integrativen Schub.“
Wolfgang Schmale plädierte zudem dafür, dass Fragen von großer Tragweite in der gesamten Union einer Bürgerabstimmung unterzogen werden müssten. „Über den Brexit hätten dann nicht nur die Briten, sondern alle EU-Bürger abgestimmt.“Das Ergebnis hätte vermutlich anders gelautet. Schmale: „Auch vor geplanten Beitritten sollen alle in der EU abstimmen dürfen.“Schließlich sollten die österreichischen Wähler bei der nächsten EU-Wahl nicht nur „ihre“Kandidatinnen und Kandidaten wählen dürfen, sondern auch solche aus anderen Ländern.
Der Schweizer Wissenschafter Marco Jorio zitierte die Berner Zeitung von vor 150 Jahren: „Das Volk ist nicht mehr bereit, von oben herab regiert zu werden.“Er beschrieb die Gründung des schweizerischen Bundesstaates als Projekt von unten nach oben. Es sei von den Bürgern initiiert worden. Diese Bottom-upStrategie müsse auch in der EU stärker angewendet werden.
Als mögliche Sinnstifter für die „EU neu“wurden „die soziale Union“und „die sichere Union“genannt. Die Debatte wird fortgesetzt. Video auf