Integration auf dem Friedhof
Heimaterde. Ein Friedhof ist ein Abbild der Gesellschaft. Dann müssten dort doch auch immer mehr Muslime begraben werden, oder nicht? Ein Gespräch zwischen Gräbern.
Was hier lebt, sind die Erinnerungen – und Eichhörnchen.
Gerade flitzt eines über den Asphaltweg, der Gruppe 37 von Gruppe 44 trennt, umrundet respektvoll ein Grab und läuft behände eine Eiche hinauf. In dem Grab ruht eine Frau, 74 Jahre alt ist sie geworden, viel jünger sieht sie aus auf dem Bild, das sie lächelnd und mit braunen Locken zeigt.
Christian Stadler hält sich gern auf Friedhöfen auf. „Ein Friedhof hat viel zu erzählen. Er lebt“, sagt er. – Um uns herum befinden sich 25.000 Gräber. Stadlers Ansage klingt zunächst seltsam. „Friedhöfe wurden für die Lebenden gemacht, nicht für die Toten. Sie kommen her, um zu trauern. Viele Studenten kommen, um zu lernen, weil es hier so schön ruhig ist. Und viele alte Leute kommen, weil sie einsam sind und hier leicht Kontakt knüpfen können. Hier gibt es immer einen Grund, bei jemandem vorbeizugehen: ein Feuerzeug ausleihen, welke Blätter entsorgen. Dann kann man stehen bleiben und ein paar Worte wechseln“, erklärt Stadler. Er zupft an einem Buchsbaum, den in diesem Jahr der Zünsler, ein gefräßiger Falter, reihenweise hinwegrafft. „Wir verwenden keine mehr“, sagt er und lässt ein paar braune Blätter durch die Finger bröseln.
Stadler ist Leiter des Gartenamts in Salzburg und zuständig für die sechs städtischen Friedhöfe. Der größte in Salzburg ist der, auf dem wir uns befinden, der Kommunalfriedhof. Im Jahr 1879 noch außerhalb der Stadt gegründet, ist ebendiese inzwischen um die Friedhofsmauern herumgewachsen. „Schon zur Gründungszeit war der Kommunalfriedhof ein interkonfessioneller Friedhof“, sagt Stadler. „Damals wurden vor allem Katholiken und Protestanten hier nebeneinander begraben.“Heute findet sich auch eine muslimische Begräbnisstätte. An anderen Grabsteinen ist erkennbar, dass hier auch Hinduisten, Buddhisten, Orthodoxe und Zeugen Jehovas ihre letzte Ruhe gefunden haben. „Wie die Menschen auch gelebt haben, in welchem Glauben oder ohne – sie können hier beerdigt werden“, sagt Stadler. Auch den Abschied könne man sehr frei gestalten. „Ob mit Pfarrer, mit Imam oder mit dem Onkel als Redner, das ist egal. Und wenn zur Trauer gehört, dass 30 Luftballons losgelassen werden, ist das eben so.“
Als die muslimische Gemeinschaft im Jahr 1995 zum ersten Mal ein Mitglied auf dem Kommunalfriedhof begraben wollte, stellten sich vor allem vier Fragen. Erstens: Den Verstorbenen zu waschen ist im Islam nach dem Tod die erste Pflicht. Frauen werden von Frauen gewaschen und Männer von Männern. Nur wo? „In Salzburg haben wir dafür bis jetzt nur eine Notlösung. Es ist ein improvisierter Waschraum beim städtischen Bestattungsinstitut. Wirklich zufrieden sind wir damit nicht. Es ist geplant, in der Aussegnungshalle, die ohnehin umgebaut wird, eine Möglichkeit zum Waschen zu bieten“, sagt Stadler. Zweitens: Muslime wollen mit dem Gesicht nach Mekka gewandt begraben werden. Also wie genau? Hier irrte man zunächst und begrub die Menschen derart, dass sie, sollten sie sich theoretisch aufrichten, nach Mekka blicken. Seit 2010 ist das in der Friedhofsverordnung korrigiert, die Toten werden seitlich auf der rechten Körperseite liegend gebettet, der Kopf nach Westen, die Füße nach Osten. Drittens: Im Islam sollen Tote sehr bald bestattet werden. Ist ein Mensch am Vormittag gestorben, sollte er noch am selben Tag beigesetzt werden. Stirbt er am Nachmittag, soll die Bestattung am nächsten Tag erfolgen. Was tun? In Österreich müssen per Gesetz zwischen Eintritt des Todes und der Bestattung 48 Stunden vergehen. Und viertens: Dürfen Muslime ihre Angehörigen in weißen Tüchern beerdigen, wo in Österreich wegen Seuchengefahr Sargzwang herrscht?
„Wir haben uns sehr leicht geeinigt“, beschreibt Stadler die Gespräche mit der muslimischen Glaubensgemeinschaft. Konkret: auf die Bestattung im Sarg erst 48 Stunden nach Eintritt des Todes. Dennoch wurden seit dem Jahr 1995 nur 40 Muslime auf dem Kommunalfriedhof begraben, fünf in diesem Jahr. Die meisten Toten würden in ihre Heimat überstellt, berichtet Christian Stadler. „Heimaterde zählt viel. Das ist in allen Kulturen so. Zudem hat es damit zu tun, dass es im Islam sehr wichtig ist, dass viele Menschen zu einem Begräbnis kommen. Das zählt als gutes Werk für die, die kommen, und es hilft dem, der vor Allah tritt. Wenn du also weißt: Hier kommen höchstens 20, daheim aber 200, dann ist die Sache klar.“
Wir passieren Gräber, in denen neben Kerzen und Engeln kleine Werbeschildchen aus der Erde ragen. Die Telefonnummer einer Gärtnerei ist dem Schild zu entnehmen. „Viele Menschen haben keine Zeit mehr für die Grabpflege, oder die Hinterbliebenen leben ganz woanders. Dann beauftragen sie einen Gärtner. Auf den Schildern steht, welchen. So können wir uns melden, sollte ein Grab einmal nicht gut gepflegt sein.“Im Vorbeigehen weist er zwei Gärtner an, mit dem Laubblasen aufzuhören. „FriedhofOrdnung lesen!“, sagt er ihnen noch, dann erreichen wir das Krematorium.
Gut drei Viertel aller Toten würden inzwischen verbrannt, sagt Stadler. Manchmal, weil der Verstorbene das so wollte. Meist, weil es billiger ist. Ein Erdgrab kostet zwischen 300 und 600 Euro für zehn Jahre. Ein Urnengrab kostet für dieselbe Zeitspanne zwischen 150 und 300 Euro, sagt Stadler. Und dann erklärt er, wie es kam, dass die Stadtgärtner auf dem Kommunalfriedhof 300 Gräber pflegen, in denen gar niemand mehr begraben liegt. „Die Gräber wurden aufgelassen, weil es keine Hinterbliebenen mehr gibt oder diese das Grab nicht mehr bezahlen wollen. Nach zehn Jahren darf man ein Grab auflösen.“Üblicherweise werden der Grabstein und die Einfassung dann abtransportiert. Wenn es sich allerdings um sehr schöne, alte Grabsteine handelt, werden diese saniert und können mit neuer Gravur wieder genutzt werden. Vintage hat also auch am Friedhof Einzug gehalten. „Allerdings wird das Angebot nur wenig angenommen, weil Erdgräber immer seltener gefragt sind“, sagt Stadler. Und so werden 300 leere Gräber gepflegt. „Der Friedhof hätte doch sonst lauter Lücken“, sagt Stadler.
Wo er selbst einmal begraben werden will? „Ich pendle noch“, sinniert Stadler. „Hier auf dem Kommunalfriedhof oder auf dem St.-Sebastians-Friedhof in der Innenstadt.“Er hoffe zudem auf einen Platz im Himmel. „Die Vorstellung davon, wo ihre Liebsten landen, ist bei den Anhängern verschiedener Religionen ziemlich ähnlich. Meist landet man entweder bei Gott oder im Fegefeuer oder, wenn man Buddhist ist, als Regenwurm wieder auf der Erde.“
Ob das stimmt, wissen die Toten.