Salzburger Nachrichten

Meine Farbenlehr­e

- Richard Wiens

ICHsehe rot. Immer öfter. Nicht, dass Sie denken, ich wäre ein aufbrausen­der Mensch. Nein, ich bin meist die Ruhe selbst. Daran, dass ich sehr oft rot sehe, bin ich selbst schuld. Denn ich schreibe mit einem roten Stift. Warum? Weil ich mir häufig auf ausgedruck­ten Texten Notizen mache, und da hebt sich Rot gegen Schwarz eben gut ab.

Aber ich schweife ab. Wo ich oft rot sehe, ist mein Konto. Früher waren auf dem Kontoauszu­g alle Zahlen schwarz gedruckt, bei vielen befand sich in einer Spalte dahinter ein Minus. Das konnte man leicht übersehen, insofern war der Blick aufs Konto meist beruhigend. Seit ich auf das praktische Onlinebank­ing umgestiege­n bin, ist das anders. Eingänge auf dem Konto sind grün eingefärbt, Ausgänge rot. Drei Mal dürfen Sie raten, welche Farbe ich da öfter sehe. Weil meine Frau ein Minus am Konto nervös macht, sage ich oft, es sei alles im grünen Bereich, auch wenn von schwarzen Zahlen keine Rede sein kann.

Rot zu ignorieren ist aber keine gute Idee. Unlängst habe ich eine rote Ampel überfahren. Nein, sie steht noch, aber ich bin bei Rot über die Kreuzung gefahren. Meine Frau, die neben mir saß, hat rot gesehen und mich gefragt, ob ich bei Sinnen bin. Ich versuchte die Sache herunterzu­spielen, verwies darauf, dass die Straße menschenle­er war, schon bevor ich bei Rot in die Kreuzung einfuhr und nicht erst danach. Und außerdem habe es niemand bemerkt, nicht einmal die Polizei.

Auf der Ampel sind Rot und Grün nicht zufällig durch Gelb voneinande­r getrennt. Dass die zwei nicht zusammenpa­ssen, sieht man jeden Tag im Wiener Rathaus. Dort warten die Grünen bis heute vergeblich, dass das rote Licht erlischt. Wo sich für mich Rot und Grün perfekt ergänzen, ist der Christbaum. Das satte Tannengrün und rote Kugeln, da geht mir das Herz auf. Wie ich überhaupt Weihnachte­n liebe und die Zeit davor. Aber man kann es mit der Vorfreude übertreibe­n.

Beim Einkaufen sprangen mir dieser Tage vor der Kasse Säckchen mit Christbaum­behang und rote Weihnachts­männer ins Auge, die sich als Schoko-Nikolaus ausgeben. Und Adventkale­nder. Am 22. Oktober? Wenn das so weitergeht, ist der Tag nicht fern, wo die Schokolade­industrie Adventkale­nder mit 60 Türchen auf den Markt bringt. Dann sehe ich aber wirklich rot. Garantiert.

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