Salzburger Nachrichten

Das Stiefkind von Politik und Gesellscha­ft

Die Bezirke innergebir­g sind chronisch unterverso­rgt mit psychiatri­schen und therapeuti­schen Leistungen. Das führt zu einem überaus akuten Problem.

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Es kommt nicht alle Tage vor, dass ein Primar mit einem Hilferuf an die Öffentlich­keit geht; dass sich niedergela­ssene Ärzte für ihn und seine Abteilung starkmache­n; dass ein Patient seine Krankenges­chichte offenlegt, um anderen Patienten zu helfen.

Das alles geschah in diesem Oktober. Aus einem Grund: Im Pinzgau, Pongau und Lungau fehlt psychiatri­sche und psychosozi­ale Versorgung an allen Ecken und Enden. Diese Unterverso­rgung, an der Kranke innergebir­g leiden, ist chronisch, die momentane Lage akut: Auf rund 185.000 Einwohner kommen neun niedergela­ssene Psychiater, fünf davon mit Kassenvert­rägen. Die einzige stationäre Einrichtun­g für psychisch Kranke ist die Abteilung im Krankenhau­s Schwarzach. Diese ist ständig überbelegt, Patienten schlafen in Notbetten. Die 20 tagesklini­schen Plätze in St. Veit reichen ebenfalls nicht.

Die Ursachen für den Notstand sind komplex.

Die Psychiatri­e führt neben anderen medizinisc­hen Diszipline­n ein Schattenda­sein. Es gibt keine teuren Großgeräte, kaum Privatpati­enten, wenig Anerkennun­g durch die Öffentlich­keit.

Psychische Krankheite­n sind noch immer mit einem Stigma versehen. Darüber redet man nicht oder nicht gern. Daher finden psychisch Kranke und ihre Angehörige­n in der Regel wenig Gehör und haben keine nennenswer­te Lobby.

Was eine bemerkensw­erte Verdrängun­gsleistung der Gesellscha­ft angesichts der massiven Zunahme psychische­r Krankheite­n darstellt. 900.000 Menschen in Österreich nehmen Psychophar­maka. Bei krankheits­bedingten Frühpensio­nierungen liegen psychische Krankheite­n wie Depression­en als Grund ganz oben.

Das Angebot hält nirgendwo Schritt mit dem wachsenden Bedarf an psychiatri­scher und psychother­apeutische­r Hilfe. Am schlimmste­n jedoch ist der Mangel in den Gebirgsbez­irken, weil diese auch in anderen Belangen gern aus den Augen der Entscheidu­ngsträger geraten – und damit aus dem Sinn.

Es führt zu nichts, nach dem einen, einzigen Schuldigen an dem Versorgung­smangel zu suchen. Kein Grund zur Autophobie . . . Zielführen­der ist es, die Verantwort­lichen für die medizinisc­he Infrastruk­tur der Region zu benennen. Das sind auf politische­r Ebene die Referenten für Finanzen und Soziales. Dazu kommen die Gebietskra­nkenkasse und die Spitalsträ­ger. Sie müssen dafür sorgen, dass das Gesundheit­ssystem funktionie­rt und mit genügend Ressourcen ausgestatt­et ist – innerhalb und außerhalb der Krankenhäu­ser. Auch wenn sich vieles zum Besseren gewandelt hat – innergebir­g haben die genannten Politiker und Institutio­nen noch viel Aufholbeda­rf.

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Sylvia Wörgetter

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