„Es zählt, was mein Volk sagt“
Der türkische Präsident Erdoğan meint, ihm sei egal, ob Kritiker ihn einen „Diktator“schimpften. Der kommende EU-Fortschrittsbericht wird demnach wenig vorteilhaft ausfallen.
Putschversuch und Ausnahmezustand, Massenfestnahmen und Suspendierungen: Angesichts der Entwicklungen in der Türkei hat wenig Beachtung gefunden, dass die Regierung auch noch die Zeitzone des Landes ändern ließ. Seit Ende vergangenen Monats ticken die Uhren in Ankara dauerhaft wie die in Moskau oder Mekka.
Dafür ist die Türkei Berlin und Brüssel jetzt im Winter zwei Stunden voraus. Doch nicht nur auf der Uhr ist die Distanz gewachsen. Mit der Verhaftung von Journalisten und Abgeordneten hat das Vorgehen in der Türkei auch aus EU-Sicht eine neue Qualität erreicht.
Seit dem 21. Juli gilt der von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan verhängte Ausnahmezustand, seitdem wächst die Sorge in der EU über den Beitrittskandidaten stetig. Erdoğan regiert mit Dekreten, die nicht nur sofort Gesetzeskraft haben, sondern die auch unanfechtbar sind: Die Verfassung erlaubt keine Klagen gegen die Erlässe.
Man muss kein Jurist sein, um die EU-Tauglichkeit mancher Maßnahme infrage zu stellen: etwa jener, die Behörden ermächtigt, Reisepässe auch der Ehepartner von Verdächtigen einzuziehen, was an Sippenhaft erinnert. Wenig EU-tauglich ist auch die von Erdoğan befeuerte Debatte über die Todesstrafe. Erdoğan argumentiert, er greife nur Forderungen aus dem Volk auf. Niemand zweifelt aber daran, dass er solche Forderungen mit einem Handstreich zum Verstummen bringen könnte – wenn er wollte. Stattdessen wischt er Bedenken zur Seite, der EU-Beitrittsprozess könne bei einer Wiedereinführung der Todesstrafe beendet sein. „Wieso machen wir uns so abhängig von dort?“, fragt Erdoğan mit Blick auf Europa. „Nicht was der Westen sagt, zählt, sondern das, was mein Volk sagt.“Am Sonntag machte er deutlich, dass ihn internationale Kritik nicht juckt: „Es kümmert mich überhaupt gar nicht, ob sie mich einen Diktator oder Ähnliches nennen“, sagt er. Der EU droht Erdoğan zudem mit den Flüchtlingen – wieder einmal.
Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu hat erst vor wenigen Tagen angekündigt, den Flüchtlingspakt vor Jahresende aufzukündigen, sollte die EU der Türkei nicht endlich Visumfreiheit gewähren. Die Haltung Ankaras ist dabei in etwa so: Wir erfüllen eine zentrale Bedingung der EU für die Visumfreiheit nicht, obwohl wir dieser Bedingung ausdrücklich zugestimmt haben – auf Visumfreiheit bestehen wir aber trotzdem. Konkret geht es um eine Reform der türkischen Anti-TerrorGesetze. Tatsächlich ist die Terrorbedrohung in der Türkei so hoch, dass kürzlich alle Angehörigen von Diplomaten am US-Generalkonsulat in Istanbul nach Hause beordert wurden. Um eine Schwächung des türkischen Anti-Terror-Kampfs geht es der EU aber nicht. Sie beharrt auf einer Reform, weil sie befürchtet, dass die Anti-TerrorGesetze gegen Regierungskritiker missbraucht werden. Woher diese Sorge rührt, liegt aus Sicht Brüssels auf der Hand. Die Verhaftungen der Journalisten der Zeitung „Cumhuriyet“vom Samstag, die der Abgeordneten der prokurdischen HDP vom Tag zuvor: In all diesen und Zehntausenden weiteren Fällen lautet der Vorwurf auf Terror-Unterstützung. Die HDP – die zweitgrößte Oppositionspartei in der Nationalversammlung – verkündete am Sonntag aus Protest einen Boykott der Parlamentsarbeit.
Kaum verwunderlich also, dass der am kommenden Mittwoch erwartete EU-Fortschrittsbericht zu den Beitrittsverhandlungen wenig vorteilhaft ausfallen wird.