Menschen greifen nach Monstern
Hieronymus Bosch hat viele furchterregende Wesen gemalt. Aus Anlass seines 500. Todestags wird neuerlich gefragt: Was bedeuten sie?
Unverletzlich schön fühlt sich die langhaarige Blonde. Grazilen Schritts und bar jeder Scham begibt sie sich in die Welt hinaus. Genügt ihr das kesse Mäntelchen, um dem Wesen neben ihr die Hand zu reichen? Sie sieht nichts, weil sie keine Zweifel zulässt. Sie spürt nicht, wie eine Schlange mit Grapsch-Armen an ihr hinaufzüngelt. Sie merkt nicht, wie unter dem reich bestickten, schwarzen Mantel ein Drache nach ihr greift, der sie in eine andere Richtung führt, als sie anstrebt, und dessen Licht rußt. Sie erkennt nicht das Monster.
Diese kapriziöse Schöne ist dem Hochmut verfallen. Sie wiegt sich in Selbstlob und Sicherheit.
Dies ist eine von vielen Warnungen, die Hieronymus Bosch gibt. Und die scheinbar beneidenswert Schöne ist eines von vielen Details auf dem „Weltgericht“-Triptychon, das die Galerie der Akademie der bildenden Künste in Wien seit Ende der Vorwoche mit einer kleinen Ausstellung umgibt. Sie folge nicht den kunsthistorischen Pfaden wie heurige Großausstellungen in Madrid oder ’s-Hertogenbosch, sagt Kuratorin Martina Fleischer. Vielmehr ergründe sie „die Faszination, die Bosch durch Mischwesen auslöst“.
Sie analysiert also Monster. Nach ihren Studien der Monster im „Weltgericht“sowie von Antike bis Gegenwart folgert sie: „Die Monster gehen nicht unter. Sie sind etwas, was die Menschen brauchen.“
Welche Monster gibt’s in der Gegenwart? Die hat Martina Fleischer in Labors und bei Künstlern gefunden. So zeigt sie ein Foto der Vacanti-Maus. Dafür haben die Transplantationsforscher Charles und Joseph Vacanti Knorpel in Form eines menschlichen Ohres unter die Haut einer Maus implantiert und 1997 davon Fotos veröffentlicht. Zudem erinnert sie an das Klonschaf Dolly als erste gentechnische Replik eines Säugetiers. Ist das der erste Schritt, biotechnisch zu erzeugen, was Hieronymus Bosch fantasiert hat – einen Menschenkopf mit Füßen oder eine Maus mit Rückenpanzer?
Weiters zeigt sie Tierpräparate der Künstlerin Irene Hopfgartner in der Tradition der Kunst- und Wunderkammern. Da ist ein siamesischer Eichelhäher-Zwilling. Oder: Ein Kreuzschnabel wendet staunend seinen Kopf nach oben. Aber: „Vögel schauen nie nach oben“, sagt die Kuratorin. „Sie fliegen ja.“
Martina Fleischer hat Monster bis in die Antike verfolgt – wie Zentauren und Sirenen. So eine Frau mit zwei Fischschwänzen statt des Unterleibs hat sie in Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“im Prado entdeckt, auf romanischen Kapitellen und in einem Straßburger „Hortus Sanitatis“, einem naturkundlichen Renaissance-Text von 1497, der aus der Universitätsbibliothek Salzburg als Leihgabe in Wien ist.
Dass die Mischwesen „den Beigeschmack des Bösen“hätten, belegt Martina Fleischer mit einem Zitat von Horaz. Der habe 14 v. Chr. deren Widrigkeit zum ideal Schönen statuiert, „da hässlich in einem Fisch ausliefe das oben so reizende Weib“.
Im christlichen Kontext hat Augustinus Monstern den Ausdruck von Sündhaftigkeit zuerkannt. So ist der Begriff auch etymologisch zu verstehen – von lateinisch „monstrare“(zeigen). Die Missgestalt zeigt das Abweichen vom moralischen Ideal. Übrigens: Eine rare Ausnahme sei das Einhorn, „eines der wenigen positiv besetzten Monster“, sagt die Kuratorin.
Mit Blick auf Hieronymus Bosch beeindruckt, welche mittelalterlichen Bücher sie zeigt. Eine Schedel’sche Weltchronik von 1493 ist auf der Seite aufgeschlagen, die mit abstrusen Wesen bebildert ist, wie einem Skiapoden, der nur ein Bein hat, dafür mit so riesigem Fuß, dass der – im Liegen hochgestreckt – als Sonnenschutz dient. Im Brevier der Herzogin von Geldern von zirka 1415 steht neben dem Psalm 120 ein possierliches Wesen auf zwei Beinen: mit rotem Einhorn, Vogelkopf, Schwanenhals, um den ein blauer Kragen flattert, sowie Rehhinterteil.
Hieronymus Bosch, der „unglaublich gelehrt gewesen ist“, stamme aus einer Familie der Buchmaler, schildert Martina Fleischer. Am Burgunder Hof, wo die Buchmalerei eine lange Tradition gehabt habe, sei er aus- und eingegangen. Zudem war er Christ, vermutlich sogar mit Erasmus von Rotterdam befreundet. Allerdings war er auch Satiriker, ein Meister der persiflierenden Umkehr und Übertreibung.
Diese Geisteshaltung sei am burgundischen Hof verbreitet gewesen, sagt Martina Fleischer. Zudem passten Boschs Motive zur Devotio moderna, einer spätmittelalterlichen religiösen Erneuerungsbewegung, die zur Selbstbetrachtung anhalte – durchaus abseits des Klerus. Insofern sind Boschs Monstren auch als satirische Details des Sichselbst-Erkennens zu lesen. Sie zeigen gutes und schlechtes Leben. Sie verdeutlichen, was quasi ins Paradies und was in die Hölle führt.
So warnt das Bild der Frau mit dem Drachen vor Superbia, der Todsünde des Hochmuts. Weitere Details aus dem „Weltgericht“lassen sich in einem druckfrischen 32seitigen Bilderbuch studieren. Eine andere Szene warnt vor Gula, der Völlerei: Ein Dickwanst wird von Monstren gehalten, in sein Maul rinnt Flüssiges aus einem Fass – nein, kein Wein! Ein rotes Teufelchen hält das Fass so unter ein Fenster, dass durch einen Trichter hineinrinnt, was ein am Sims liegender nackter Arsch entlässt. Das heißt: Eine bestimmte Sünde wird gleichermaßen vergolten.
Und doch: Auch nach ihrem Studium vermöge sie nur etwa die Hälfte der Szenen und Wesen im „Weltgericht“in mythologischen, sprichwörtlichen oder religiösen Kontext zu stellen, sagt Martina Fleischer. „Wir erarbeiten uns erst jetzt viele Dinge neu.“Sie sei aber überzeugt, dass Boschs Zeitgenossen und dessen adelige Auftraggeber das Dargestellte genau erkannt hätten: „Die haben gelacht und sich gefreut.“ Ausstellung:
Natur auf Abwegen, Mischwesen, Gnome und Monster (nicht nur) bei Hieronymus Bosch, Akademie der bildenden Künste Wien, Gemäldegalerie, bis 29. Jänner. Bibliothek der Provinz, 2016.
„Ich möchte Sie nicht erschrecken.“
Buch: