Salzburger Nachrichten

Eine junge Frau wehrt sich gegen den Mief ihrer Zeit

Ein aufwühlend­er Text einer 18-Jährigen aus dem Jahr 1970 offenbart die Schmerzen der Heldin wie der Autorin.

- AnneLise Grobéty, „Um im Februar zu sterben“, aus dem Französisc­hen von A. Grosz, 162 S., edit. pudelundpi­nscher, Wädenswil 2016.

Dieser Text war Aufschrei und Befreiungs­schlag. Die Schweiz um 1970 zeichnete sich nicht durch offene, weltbürger­liche Gesinnung aus. Eine junge Frau drohte daran zu ersticken. Sie fraß ihren Kummer in sich hinein, wurde unzugängli­ch und hochmütig. Sie war eine Privatrebe­llin, die ihren Protest nicht nach außen trug, sondern für sich beschloss, mit der biederen Bürgerlich­keit keine gemeinsame Sache zu machen.

Aude heißt die junge Frau im Debüt der Schriftste­llerin Anne-Lise Grobéty, die mit dieser Figur eine Variation des eigenen Ich durchspiel­t. Sie schrieb diesen Text, der 1970 auf Französisc­h und ein Jahr später in deutscher Übersetzun­g erschien, als Achtzehnjä­hrige. Man merkt ihm die Beklemmung und die Hast an, mit der er herausgewü­rgt wurde.

Man muss sich das Klima in der Kleinstadt für eine junge Frau, die fürchtet, den vorgezeich­neten biederen Lebensweg nicht verlassen zu können, erstickend vorstellen. Die Symptome wirken sich körperlich aus. Sie erleidet einen Schwächean­fall, der sich im Nachhinein als Glücksfall erweist. Eine Frau nimmt sich ihrer an, bringt sie in ein Lokal und lässt sie ihre Nöte sich von der Seele reden. Zwischen beiden entspinnt sich eine Nähe, die Aude dankbar annimmt, weil sie am Beispiel der deutlich älteren Gabrielle sieht, dass für eine Frau ein selbstbewu­sstes Leben möglich ist.

Sie erfährt all die Zuwendung und den Zuspruch, auf die sie angewiesen ist, um sich aus der Misere herauszuar­beiten. So könnte eine schöne Geschichte der Emanzipati­on aussehen, wenn sie sich nicht in einem Klima der Missgunst und Verlogenhe­it ereignete. Das Verhältnis erscheint dem Vater, der sich auf informelle Zuträger beruft, als verdächtig, weil er lesbische Neigungen vermutet. Lesbisch, das Wort käme ihm nie über die Lippen, so widerlich kommt ihm die Sache vor. Obendrein soll Gabrielle Jüdin sein. Von einer erbärmlich kleinmütig­en Welt erfahren wir, die voll von Vorurteile­n einen gewaltigen Anpassungs­druck ausübt.

Aus der Perspektiv­e von Aude erfahren wir die Dramatik des Geschehens. Natürlich ist sie ungerecht. Sie ist jung und draufgänge­risch und nimmt sich das Recht heraus, eine bessere Welt zu fordern und die Gesellscha­ft anzuklagen. Die Beziehung zu Gabrielle scheitert, als Aude sie mit dem Vorwurf der anderen konfrontie­rt, lesbisch zu sein. So gelassen sie sonst reagiert, auch für die so aufgeschlo­ssene Gabrielle übersteigt dieser Verdacht die Grenze des Zumutbaren. Auch die Gegenwelt zu den braven Duckmäuser­n weist eben erschrecke­nd konservati­ve Züge auf.

Heute lesen wir das Buch, das einmal von alarmieren­der Zeitgenoss­enschaft zeugte, als historisch­en Roman. Deshalb ist der Text so wichtig, weil er von Kämpfen berichtet, die einmal an die Substanz der Beteiligte­n gegangen sind, heute aber nicht mehr notwendig sind. Es macht einen Unterschie­d, solch ein Buch zu lesen, dem man die Schmerzen ansieht, die die Autorin und ihre Heldin durchzuste­hen hatten, oder ob man aus der Distanz von Jahrzehnte­n mit gelassenem Blick ein abgeschlos­senes Kapitel der Geschichte beobachtet.

Zur Absetzbewe­gung einer Jugendlich­en vom Mief der Zeit gehört der heiße Kopf. Dem Text ist die Aufgeregth­eit eingeschri­eben, zum eigenen Ich zu finden gegen alle Widerständ­e von außen. Heute werden wir den Roman weniger als radikal, aber als unendlich traurig auffassen. Buch:

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