Eine junge Frau wehrt sich gegen den Mief ihrer Zeit
Ein aufwühlender Text einer 18-Jährigen aus dem Jahr 1970 offenbart die Schmerzen der Heldin wie der Autorin.
Dieser Text war Aufschrei und Befreiungsschlag. Die Schweiz um 1970 zeichnete sich nicht durch offene, weltbürgerliche Gesinnung aus. Eine junge Frau drohte daran zu ersticken. Sie fraß ihren Kummer in sich hinein, wurde unzugänglich und hochmütig. Sie war eine Privatrebellin, die ihren Protest nicht nach außen trug, sondern für sich beschloss, mit der biederen Bürgerlichkeit keine gemeinsame Sache zu machen.
Aude heißt die junge Frau im Debüt der Schriftstellerin Anne-Lise Grobéty, die mit dieser Figur eine Variation des eigenen Ich durchspielt. Sie schrieb diesen Text, der 1970 auf Französisch und ein Jahr später in deutscher Übersetzung erschien, als Achtzehnjährige. Man merkt ihm die Beklemmung und die Hast an, mit der er herausgewürgt wurde.
Man muss sich das Klima in der Kleinstadt für eine junge Frau, die fürchtet, den vorgezeichneten biederen Lebensweg nicht verlassen zu können, erstickend vorstellen. Die Symptome wirken sich körperlich aus. Sie erleidet einen Schwächeanfall, der sich im Nachhinein als Glücksfall erweist. Eine Frau nimmt sich ihrer an, bringt sie in ein Lokal und lässt sie ihre Nöte sich von der Seele reden. Zwischen beiden entspinnt sich eine Nähe, die Aude dankbar annimmt, weil sie am Beispiel der deutlich älteren Gabrielle sieht, dass für eine Frau ein selbstbewusstes Leben möglich ist.
Sie erfährt all die Zuwendung und den Zuspruch, auf die sie angewiesen ist, um sich aus der Misere herauszuarbeiten. So könnte eine schöne Geschichte der Emanzipation aussehen, wenn sie sich nicht in einem Klima der Missgunst und Verlogenheit ereignete. Das Verhältnis erscheint dem Vater, der sich auf informelle Zuträger beruft, als verdächtig, weil er lesbische Neigungen vermutet. Lesbisch, das Wort käme ihm nie über die Lippen, so widerlich kommt ihm die Sache vor. Obendrein soll Gabrielle Jüdin sein. Von einer erbärmlich kleinmütigen Welt erfahren wir, die voll von Vorurteilen einen gewaltigen Anpassungsdruck ausübt.
Aus der Perspektive von Aude erfahren wir die Dramatik des Geschehens. Natürlich ist sie ungerecht. Sie ist jung und draufgängerisch und nimmt sich das Recht heraus, eine bessere Welt zu fordern und die Gesellschaft anzuklagen. Die Beziehung zu Gabrielle scheitert, als Aude sie mit dem Vorwurf der anderen konfrontiert, lesbisch zu sein. So gelassen sie sonst reagiert, auch für die so aufgeschlossene Gabrielle übersteigt dieser Verdacht die Grenze des Zumutbaren. Auch die Gegenwelt zu den braven Duckmäusern weist eben erschreckend konservative Züge auf.
Heute lesen wir das Buch, das einmal von alarmierender Zeitgenossenschaft zeugte, als historischen Roman. Deshalb ist der Text so wichtig, weil er von Kämpfen berichtet, die einmal an die Substanz der Beteiligten gegangen sind, heute aber nicht mehr notwendig sind. Es macht einen Unterschied, solch ein Buch zu lesen, dem man die Schmerzen ansieht, die die Autorin und ihre Heldin durchzustehen hatten, oder ob man aus der Distanz von Jahrzehnten mit gelassenem Blick ein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte beobachtet.
Zur Absetzbewegung einer Jugendlichen vom Mief der Zeit gehört der heiße Kopf. Dem Text ist die Aufgeregtheit eingeschrieben, zum eigenen Ich zu finden gegen alle Widerstände von außen. Heute werden wir den Roman weniger als radikal, aber als unendlich traurig auffassen. Buch: