Starke Liebe, unterschiedlich beleuchtet
Mit Wagners „Tristan und Isolde“und Gounods „Roméo et Juliette“gelingt der Grazer Oper eine imposante Herbstsaison.
GRAZ. Die Grazer Oper hat seit 1899 eine ruhmreiche Geschichte, deswegen muss man hier Tradition und Innovation wohl besonders ausbalancieren – was der im zweiten Jahr amtierenden Intendantin Nora Schmid augenscheinlich glänzend gelingt. Sie lässt sich auf die Geschichte des Ortes ein und positioniert die Oper doch auf angemessener Höhe der Zeit. Schrekers „Ferner Klang“und Martinus „Griechische Passion“waren Marksteine der ersten Saison, und in diesem Herbst sind Wagners „Tristan und Isolde“und, als gewichtige Rarität, Gounods „Roméo et Juliette“die ersten Säulen des Spielplans.
Wer beide Werke wie am Wochenende hintereinander hören konnte, muss mit größtem Respekt von der fulminanten Leistung des Orchesters berichten, noch dazu, da in einer nicht nur physischen Meisterleistung Robin Engelen beide Abende mit Spannkraft dirigierte: Wagner mit stürmischem Schwung, die Dynamik immer wieder über die Grenzen ausreizend, fiebrig-heiß sich wie ins Delirium stürzend und auch die bestürzende Modernität des kapitalen Werks wie in einem gemeißelten Relief aufreißend; Gounod dramaturgisch klug tarierend mit sensitivem Gespür für melodiöse Feinheiten, Klangpracht, Energie für das große, strömende Gefühl und nötiger, aber nie überstrapazierter plakativer Wirkung.
Die Sängerbesetzungen beider Abende zeigten Ensembleleistungen von famoser Güte. Gun Brit Barkmin überzeugt als Rollendebütantin mit Isolde, weil sie die kolossale Partie klug von der lyrischen Substanz her angeht, Zoltán Nyari weiß sich als Tristan die Kräfte dosiert einzuteilen, um für die monströsen Fiebervisionen des 3. Aufzugs noch beachtliche metallische Reserven freisetzen zu können. Sophia Brommer singt und spielt eine wunderbar anrührende, mit subtilen Farben ausgestattete Juliette, der koreanische Tenor Kyungho Kim steht die Partie des Roméo mit bombensicherer Bravour, aber zu sehr im Einheitsforte und im auf einer Farbe befangenen Charakter heldenhaft durch. Herausragend aus den stimmigen Ensembles Dshamilja Kaiser als wunderbare Brangäne bei Wagner und als strenge Gertrude bei Gounod, Jochen Kupfer als Kurwenal, Peter Kellner als Bruder Laurent, Anna Brull in einem brillanten Auftritt als Stéphano, Markus Butter als Graf Capulet und Tylan Reinhard als Tybalt.
Die Regiehandschriften könnten unterschiedlicher nicht sein. Verena Stoiber und Sophia Schneider, Gewinnerinnen des international renommierten Grazer Ring Award 2014, verorten Wagners „Handlung“im Assoziationsraum einer schicken, modernen Wohnung und halten dabei nicht nur das Liebespaar, sondern auch die Ekstasen der Musik auf Distanz. Es gibt keinen Liebestrank (weil Tristan die Schale zerbricht), dafür aber die Behauptung, ein Entbrennen in Liebe hätte schon lange vor diesem Zeitpunkt stattgefunden. Isolde ist mehrfaches Opfer der testosterongesteuerten Macht des Männlichen. Die „Jäger“bringen denn auch Hasen (Schlingensief lässt grüßen) als Beute, und wenn die Nacht der Liebe herniedersinkt, häutet Tristan ein Tier und brät es auf offenem Feuer. Nicht Morolt verwundet ihn, sondern er sticht sich selbst die Augen aus. Das ist letztlich nur mehr um viel zu viele Ecken gedacht.
In diesen Verdacht gerät Ben Baur bei „Roméo et Juliette“nicht. Seine Inszenierung im von ihm entworfenen Backstein-Rund einer puritanischen Familien(ehre)-Aufstellung zeigt Stil, Geschmack, surreal gesteigerte Bildfantasien und folgt einer klaren, raffinierten Ästhetik, die nur vordergründig „old fashioned“anmutet. Vor allem interessiert sich Baur für Figuren und Figurenkonstellationen mit psychologischer Präzision, was über dem satten Klangrausch Fassaden der Konvention nachdrücklich, aber nie oberflächlich einreißt. Fazit: Mit Graz ist weiterhin stark zu rechnen.