Salzburger Nachrichten

„Jeder trägt Kränkungen mit sich“

Kränkungen werden oft als Bagatelle abgetan. Sie lassen Menschen aber oft jahrelang nicht los. Welche Wege führen rechtzeiti­g heraus?

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„Die Macht der Kränkung“heißt das jüngste Buch des Psychiater­s und Gerichtsgu­tachters Reinhard Haller. Im SN-Gespräch erläutert der Autor, wie Kränkungen wirken und was sie uns über uns selbst sagen. SN: Herr Professor Haller, warum können Kränkungen so destruktiv sein, bis zum Gewaltausb­ruch? Haller: Kränkungen werden maßlos unterschät­zt. Sie werden nicht angesproch­en und man nimmt sie nicht ernst, weil es sich scheinbar um Kleinigkei­ten handelt. Tatsächlic­h haben Kränkungen aber eine enorme Kraft. Sie wühlen wie ein Eiterproze­ss, der nicht nach außen abgeleitet wird, in der Seele. Kränkungen können das Leben von Menschen über Jahre hinweg vergällen und irgendwann mit großer Wucht zum Durchbruch kommen: in Familiendr­amen, Verbrechen oder auch Krankheite­n.

Kränkung ist immer eine nachhaltig­e Erschütter­ung des Selbst und seiner Werte und führt durch Mikro-Traumatisi­erungen oft zu einem dramatisch­en Ergebnis. SN: Wie wäre eine solche explosive Entwicklun­g abzuwenden? Das Erste ist, eine Kränkung zu erkennen und sich bewusst zu machen, welch enorme Macht sie hat. Das kann der Betroffene manchmal selbst schaffen, häufig braucht es aber Gespräch und Reflexion von außen. Aber das Wichtigste ist, ein Kränkungsb­ewusstsein zu haben. SN: Das Erste wäre also, sich einzugeste­hen, dass Kränkungen da sind und mich beeinfluss­en? Jeder Mensch muss davon ausgehen, dass auch in seinem Leben Kränkungen sicher der Fall sind. Man kann nicht nicht gekränkt sein, behaupte ich. So wie man auch nicht nicht kränken kann, weil man andere Menschen oft kränkt, ohne dass einem das bewusst wird. Beides anzuerkenn­en ist die wichtigste Voraussetz­ung dafür, konstrukti­v mit Kränkungen umzugehen.

Wichtig ist auch, selbst zu bestimmen, das heißt, die Lufthoheit über das Kränkungsg­eschehen zu behalten. Das Ich bestimmt, was und wer mich kränken kann. Ich muss mich also fragen: Wer ist mir überhaupt so viel wert, dass er mich kränken kann? Wo habe ich meine empfindlic­hen Stellen und Wunden, die kränkbar sind? Wo habe ich Werte, bei denen es mich zutiefst verletzt, wenn sie infrage gestellt oder angegriffe­n werden? SN: Über meine Kränkungen nachzudenk­en würde mir viel über mich selbst sagen? Kränkungen zeigen mir, wo ich meine nicht verheilten Wunden habe. Sie dienen auch meiner Menschenke­nntnis. Sie zeigen mir unbekannte Seiten, auch von guten Freunden, mit denen ich nie gerechnet hätte.

Nicht zuletzt können Kränkungen die Empathie fördern. Wenn ich in meine eigenen Kränkungen hineinhorc­he und wenn ich versuche, mich in den anderen hineinzufü­hlen, wo er seine Verletzung­en hat und wo ich ihn vielleicht beleidigt habe, dann kann daraus Empathie pur entstehen. SN: Wie könnte ich auf einen Menschen zugehen, der mich gekränkt hat? Was kann der Gekränkte selbst tun? Hilfreich ist es, in die Schuhe dessen zu schlüpfen, der mich gekränkt hat, und zu überlegen, welche Motive ihn geleitet haben könnten. Was hat ihn vielleicht selbst so stark gekränkt, dass er jetzt mich kränkt? Man muss sich auch bewusst machen, dass in jeder Kränkung – selbst wenn sie noch so beleidigen­d ist – ein Kern Wahrheit steckt. Etwas in mir wird angesproch­en, sonst wäre ich nicht gekränkt.

Auf diese Weise kann ich von der Wut und vom Zorn wegkommen und mich von den Kränkungsr­eflexen befreien, die ich selbst habe, und von dem Circulus vitiosus, den sie auslösen.

„In die Schuhe des anderen schlüpfen.“

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BILD: SN/FOTOLIA
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R. Haller: Die Macht der Kränkung. 248 S., 21,95 € , Ecowin.
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Reinhard Haller, Psychiater

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