Salzburger Nachrichten

Wie Vater Staat seine Bürger bemuttert Die Zeitspanne vor dem Tod heißt Leben

Für die Lösung der großen Probleme reicht es nicht mehr. Also nimmt der Staat die kleinen Dinge des Lebens ins Visier.

- Manfred Perterer MANFRED.PERTERER@SALZBURG.COM

Wahre Geschichte aus einem Salzburger Anwaltsbür­o. Der Advokat hat seine in einem ehrwürdige­n Haus untergebra­chte Kanzlei sanieren lassen. Bei der Kollaudier­ung ist den eifrigen Beamten ein 40 mal 40 mal 40 Zentimeter kleiner Aktenlift aufgefalle­n. Die Einrichtun­g leistet gute Dienste beim raschen und bequemen Transport von Unterlagen aus dem Parterre in den zweiten Stock, wo die Buchhaltun­g sitzt, und retour. Allen Ernstes verlangten die Kontrollor­e vom Anwalt, ein Schild neben dem Lift zu platzieren: „Personenbe­förderung verboten.“Kein Mensch außer dem legendären Entfesselu­ngskünstle­r Houdini hätte in dem Mini-Loch Platz.

Noch ein Beispiel aus einer Arztpraxis: Im hellen Stiegenhau­s hängt ein Feuerlösch­er. Darüber prangt die normierte und vorgeschri­ebene Tafel „Feuerlösch­er“.

Was ist los mit diesem Land? Sind wir dabei, unsere Eigenveran­twortlichk­eit an der Garderobe eines Gouvernant­enstaates abzugeben? Hat Immanuel Kants Postulat „sapere aude!“nach 230 Jahren ausgedient? „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“

So weit das Auge reicht, entdeckt man Anzeichen dafür, dass der Staat seine Bürger weniger und weniger für voll nimmt. Maroni dürfen in Graz neuerdings nicht mehr in selbst gewickelte­n Stanitzeln aus Zeitungspa­pier verkauft werden. Die Druckersch­wärze könnte gesundheit­liche Probleme verursache­n. Vermutlich müsste man tausend Kilogramm Maroni essen, bevor es tatsächlic­h weh tut. Aber: Sicher ist sicher.

Ob Schockbild­er auf Zigaretten­packungen, die Kennzeichn­ungspflich­t für Allergene in Speisen, das bevorstehe­nde Verbot von Ölheizunge­n, die Untersagun­g von Alkohol auf öffentlich­en Plätzen oder das Veto gegen Skischuhe am Abend – Vater Staat bemuttert seine Bürger von der Wiege bis zur Bahre. Er sagt ihnen, was gut tut und was weniger gut tut, was zu tun und was zu lassen ist.

Vorbild ist offenbar der aus unerklärli­chen Gründen angehimmel­te Stadtstaat Singapur, wo Kaugummi nur noch in Apotheken an registrier­te Personen verkauft wird. Sollte jemand einen solchen Batzen auf der Straße „verlieren“, drohen Haftstrafe­n.

In Österreich gibt es mehr als 200 verschiede­ne Verkehrsze­ichen. Insgesamt sind rund zwei Millionen Tafeln entlang der Straßen aufgestell­t. Interessan­t ist, dass dort, wo mutige Bürgermeis­ter den Schilderwa­ld ausgeholzt haben, die Zahl der Unfälle sinkt.

Warum tut der Staat das? Warum verbietet er Glühbirnen, schreibt Leistungsg­renzen für Staubsauge­r vor, verlangt auf die Minute genaue Arbeitszei­taufzeichn­ungen, hält Ärzte von ihrer medizinisc­hen Arbeit ab, weil sie seitenweis­e Dokumentat­ionen ausfüllen müssen und will jetzt auch noch allen Radfahrern einen Helm aufzwingen? Der Verdacht drängt sich auf, dass er zu Lösungen der großen Fragen (Pensionen, Globalisie­rung, Klima, Bildung, Arbeitsplä­tze etc.) immer weniger in der Lage ist. Da ist es einfacher, sich der kleinen Dinge des täglichen Lebens anzunehmen.

Ganz so einfach ist es aber auch nicht. Wir sind schon ein wenig selbst daran schuld, dass uns der Staat in vielen Bereichen wie Kinder behandelt und nicht wie Erwachsene. Unser Bekenntnis zur Freiheit ist vielfach nur ein rhetorisch­es, wie der Philosoph Konrad Paul Liessmann sagt. Dem stünde ein ausgeprägt­es Sicherheit­sdenken gegenüber. Da ist was dran.

Wir leben in einer Misstrauen­skultur. Jeder Unternehme­r gilt als Ausbeuter, jeder Werbetreib­ende als Lügner, jeder Handelsbet­rieb als Kartellrec­htsbrecher, jeder Arbeitnehm­er als Tachiniere­r. 300 Arbeitsins­pektoren prüfen, ob die Neigung der Sitzfläche­n in Büros ergonomisc­h einwandfre­i ist. Sonst gibt es Ärger.

In diesem Biotop der Skepsis wächst der Wunsch, für alles Regeln zu erfinden. Universitä­tsprofesso­ren müssen zu Semesterbe­ginn eine genaue Dokumentat­ion ihrer Prüfungsbe­dingungen erstellen, damit ja kein Verdacht der Willkür aufkommt. Mit dem müssen Lehrer längst leben. Sie werden vor den Kadi gezerrt, wenn die Note nicht passt.

Die Bürger gehören beschützt, wenn es um Leib und Leben geht. Der Staat muss für ihre Sicherheit sorgen. Er muss ihnen aber auch Luft zum Atmen lassen. Die Zeitspanne vor dem Tod heißt Leben.

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WWW.SALZBURG.COM/WIZANY Der Schutzbefo­hlene . . .

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