Wie Vater Staat seine Bürger bemuttert Die Zeitspanne vor dem Tod heißt Leben
Für die Lösung der großen Probleme reicht es nicht mehr. Also nimmt der Staat die kleinen Dinge des Lebens ins Visier.
Wahre Geschichte aus einem Salzburger Anwaltsbüro. Der Advokat hat seine in einem ehrwürdigen Haus untergebrachte Kanzlei sanieren lassen. Bei der Kollaudierung ist den eifrigen Beamten ein 40 mal 40 mal 40 Zentimeter kleiner Aktenlift aufgefallen. Die Einrichtung leistet gute Dienste beim raschen und bequemen Transport von Unterlagen aus dem Parterre in den zweiten Stock, wo die Buchhaltung sitzt, und retour. Allen Ernstes verlangten die Kontrollore vom Anwalt, ein Schild neben dem Lift zu platzieren: „Personenbeförderung verboten.“Kein Mensch außer dem legendären Entfesselungskünstler Houdini hätte in dem Mini-Loch Platz.
Noch ein Beispiel aus einer Arztpraxis: Im hellen Stiegenhaus hängt ein Feuerlöscher. Darüber prangt die normierte und vorgeschriebene Tafel „Feuerlöscher“.
Was ist los mit diesem Land? Sind wir dabei, unsere Eigenverantwortlichkeit an der Garderobe eines Gouvernantenstaates abzugeben? Hat Immanuel Kants Postulat „sapere aude!“nach 230 Jahren ausgedient? „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“
So weit das Auge reicht, entdeckt man Anzeichen dafür, dass der Staat seine Bürger weniger und weniger für voll nimmt. Maroni dürfen in Graz neuerdings nicht mehr in selbst gewickelten Stanitzeln aus Zeitungspapier verkauft werden. Die Druckerschwärze könnte gesundheitliche Probleme verursachen. Vermutlich müsste man tausend Kilogramm Maroni essen, bevor es tatsächlich weh tut. Aber: Sicher ist sicher.
Ob Schockbilder auf Zigarettenpackungen, die Kennzeichnungspflicht für Allergene in Speisen, das bevorstehende Verbot von Ölheizungen, die Untersagung von Alkohol auf öffentlichen Plätzen oder das Veto gegen Skischuhe am Abend – Vater Staat bemuttert seine Bürger von der Wiege bis zur Bahre. Er sagt ihnen, was gut tut und was weniger gut tut, was zu tun und was zu lassen ist.
Vorbild ist offenbar der aus unerklärlichen Gründen angehimmelte Stadtstaat Singapur, wo Kaugummi nur noch in Apotheken an registrierte Personen verkauft wird. Sollte jemand einen solchen Batzen auf der Straße „verlieren“, drohen Haftstrafen.
In Österreich gibt es mehr als 200 verschiedene Verkehrszeichen. Insgesamt sind rund zwei Millionen Tafeln entlang der Straßen aufgestellt. Interessant ist, dass dort, wo mutige Bürgermeister den Schilderwald ausgeholzt haben, die Zahl der Unfälle sinkt.
Warum tut der Staat das? Warum verbietet er Glühbirnen, schreibt Leistungsgrenzen für Staubsauger vor, verlangt auf die Minute genaue Arbeitszeitaufzeichnungen, hält Ärzte von ihrer medizinischen Arbeit ab, weil sie seitenweise Dokumentationen ausfüllen müssen und will jetzt auch noch allen Radfahrern einen Helm aufzwingen? Der Verdacht drängt sich auf, dass er zu Lösungen der großen Fragen (Pensionen, Globalisierung, Klima, Bildung, Arbeitsplätze etc.) immer weniger in der Lage ist. Da ist es einfacher, sich der kleinen Dinge des täglichen Lebens anzunehmen.
Ganz so einfach ist es aber auch nicht. Wir sind schon ein wenig selbst daran schuld, dass uns der Staat in vielen Bereichen wie Kinder behandelt und nicht wie Erwachsene. Unser Bekenntnis zur Freiheit ist vielfach nur ein rhetorisches, wie der Philosoph Konrad Paul Liessmann sagt. Dem stünde ein ausgeprägtes Sicherheitsdenken gegenüber. Da ist was dran.
Wir leben in einer Misstrauenskultur. Jeder Unternehmer gilt als Ausbeuter, jeder Werbetreibende als Lügner, jeder Handelsbetrieb als Kartellrechtsbrecher, jeder Arbeitnehmer als Tachinierer. 300 Arbeitsinspektoren prüfen, ob die Neigung der Sitzflächen in Büros ergonomisch einwandfrei ist. Sonst gibt es Ärger.
In diesem Biotop der Skepsis wächst der Wunsch, für alles Regeln zu erfinden. Universitätsprofessoren müssen zu Semesterbeginn eine genaue Dokumentation ihrer Prüfungsbedingungen erstellen, damit ja kein Verdacht der Willkür aufkommt. Mit dem müssen Lehrer längst leben. Sie werden vor den Kadi gezerrt, wenn die Note nicht passt.
Die Bürger gehören beschützt, wenn es um Leib und Leben geht. Der Staat muss für ihre Sicherheit sorgen. Er muss ihnen aber auch Luft zum Atmen lassen. Die Zeitspanne vor dem Tod heißt Leben.