Verrücktes Flandern
Flandern ist eigenartig. Fischer reiten im Meer, Segler fahren über den Strand, Eisenbahnwaggons parken auf Hausdächern. Besuch im etwas „anderen“Belgien.
Das Atomium blitzt in der Abendsonne. Um vom Zugfenster aus einen Blick auf die silbernen Kugeln zu erhaschen, müssen Reisende ein Schlafwagenticket buchen. Dann können sie das Farbenspiel des Sonnenuntergangs bis zur völligen Finsternis beobachten. Der Schlaf im kleinen Sechsbettabteil kann jedoch noch so tief sein, beim Aufwachen befindet man sich noch immer in der belgischen Hauptstadt. Schon lang fahren keine belgischen Nachtzüge mehr durch Europa, wie etwa der Rijeka- oder Tauern-Express von Ostende über Salzburg ins ehemalige Jugoslawien. Brüssel-Besucher können trotzdem in renovierten Schlafwagen übernachten. Die Suite des Train-Hostels ragt im dritten Stockwerk bedrohlich über die Hausfassade auf den Gehsteig hinaus. Von hier haben Gäste einen tollen Blick über die Dächer und hinüber zum Bahnhof Schaarbeek, in dem das Eisenbahnmuseum Train World einen spannenden Einblick in die belgische Eisenbahngeschichte bietet. Von Brüssel ist die Nordseeküste mit dem Zug in rund eineinhalb Stunden erreichbar. Die längste Straßenbahnlinie der Welt, die Kusttram, verbindet die Orte entlang der Küste. In Oostduinkerke reiten Fischer mit ihren Pferden über die Bahngleise ins Meer. Eines der Pferde wird schon bis zum Bauch von den schäumenden Wellen umspült, dem Reiter schwappt das Wasser fast in die Stiefel. Er trägt leuchtend gelbes Ölzeug und einen Südwester auf dem Kopf, die Kleidung schützt ihn vor der stürmischen See. Das Pferd geht mit sicherem Schritt durchs Wasser und schleift ein acht Meter breites Netz über die Sandbank. Darin sollen sich Garnelen verfangen.
Johan Casier ist einer der „alten Hasen“unter den Fischern. „Ich habe die Fischerei vor 15 Jahren von meinem Vater übernommen. Garnelenfischer geben ihr Wissen in der Familie weiter, die Tradition lässt sich bis 1502 zurückverfolgen“, erzählt er und sortiert unterdessen den Fang. Heute stehen die berittenen Fischer unter dem Schutz der UNESCO, nur noch 14 Fischer gehen in Belgien auf Krabbenjagd. „Die Fischerei ist für uns nur noch Liebhaberei. Ich genieße die Ruhe draußen vor der Küste“, sagt Casier.
Auch die Segler in Oostduinkerke freuen sich auf Ebbe. Viel Platz am Strand und beständiger Wind bieten perfekte Bedingungen fürs Strandsegeln. Instruktorin Julie Verkouille versichert, dass das Segeln am Strand jeder in wenigen Minuten lernen könne: „Die ersten Runden fahren wir gemeinsam, einer konzentriert sich aufs Lenken, der andere auf die richtige Spannung im Segel und die Geschwindigkeit.“
Schnell werden die ersten Erfolge sichtbar. Die erste Wende ist geschafft und auch die Halse, die Runden werden immer schneller. Der Wagen holpert über den Strand, Matsch und Salzwasser spritzen ins Gesicht und auf den Neoprenanzug. Fast fährt das Segelwagenteam einen Windsurfer um, er kreuzt verbotenerweise den Parcours. Doch von den Hochgeschwindigkeitsfahrten der Profis mit ihren größeren Wagen ist die erste Probefahrt im Segelwagen weit entfernt.
Scheinbar sind die Hauptstädter auf die Küstenbewohner wegen der vielen Wassersportmöglichkeiten etwas eifersüchtig. Wie sonst kommt man in Brüssel auf die Idee, den tiefsten Swimmingpool der Welt zu bauen? Beim Erkundungstauchgang glitzert die Abendsonne im glasklaren Wasser. In fünf Metern Tiefe winken Restaurantgäste durchs Fenster und in einer mit Luft gefüllten Kugel können Taucher auch im Pool zu Abend essen. Sie nehmen unter Wasser im Trockenen Platz, der Kellner serviert in einer wasserdichten Box das mehrgängige Menü.
„Nemo 33“ist als eines der tiefsten Tauchbecken der Welt auch für die Wissenschaft interessant. In Brüssel wurden verschiedene medizinische Experimente, etwa zur Erforschung der Dekompressionskrankheit, durchgeführt. Auch bei Filmaufnahmen war der tiefe Pool schon beeindruckende Kulisse. Ursprünglich war der Pit 35 Meter tief, die letzten beiden Meter sind nun durch eine Metallplatte abgetrennt. Die Belgier hielten zehn Jahre lang den Weltrekord für den tiefsten Pool der Welt. Erst 2014 mussten sie den Titel an „Y-40“in Italien abgeben. Ein Glas „Dekompressionsbier“ist da ein beliebter Abschluss eines Tauchgangs. Aber welches? Gar nicht so einfach in einem Land, das mehr als tausend Biervarianten zählt. Bei dieser Vielfalt kann es also schon ein wenig dauern, bis eine Entscheidung fällt.