Salzburger Nachrichten

Rekordschm­elze verblüfft Forschung

Selbst die Wissenscha­ft ist über das Tempo verblüfft. Sie fürchtet eine Kettenreak­tion.

- ANDRÉ ANWAR

Das Eis am Nordpol schmilzt in rasantem Tempo. Selbst die Wissenscha­ft ist erstaunt. Sie fürchtet nun einen Dominoeffe­kt auf das Weltklima.

STOCKHOLM. Wer im Sommer in Westgrönla­nd mit dem Boot ausfährt, um die magisch glitzernde­n Eisberge zu bestaunen, hört von den alten Touristenf­ührern, dass sie in den 1950er-Jahren noch doppelt so hoch aus dem Polarmeer ragten. Das menschlich­e Augenmaß wird von wissenscha­ftlichen Messungen bestätigt. Demnach schmelzen die Eismassen in der Arktisregi­on wegen der Klimaerwär­mung immer schneller. Der Nordpol erlebte 2016 eine noch extremere Hitzewelle als schon 2015. Im November war es 20 Grad Celsius, in der Woche vor Weihnachte­n 30 Grad Celsius wärmer als über Jahrzehnte hinweg üblich. Temperatur­en am Nullpunkt entsprache­n denen in Teilen Deutschlan­ds und Österreich­s.

Seit Beginn der Satelliten­messungen vor 38 Jahren war die Eisdecke im hohen Norden noch nie so klein. Um zwei Millionen auf insgesamt 9,1 Millionen Quadratkil­ometer ist sie im Vergleich zu den Durchschni­ttswerten von 1981 bis 2010 geschrumpf­t. Das entspricht etwa der Größe Mexikos. Die Neubildung von Eis im Winter befinde sich auf einem historisch­en Tiefstand, heißt es vom deutschen Alfred-Wegener-Institut (AWI).

Auch in den Anrainerna­tionen der Arktis ist der Klimawande­l inzwischen deutlich zu spüren. In Norwegen wird Wein angebaut. Die jungen Rentiere in Spitzberge­n wiegen rund sieben Kilogramm weniger als noch 1994. Der mildere Winter sorgt für mehr Regen, der ihnen als Eisschicht auf dem Boden den Weg zum Futter versperrt. Auf Island würden die Gletscher kleiner und könnten in 100 Jahren verschwund­en sein, warnt Reykjavík. Die Erdkruste der Vulkaninse­l erhöhe sich, weil der Druck auf die Landmassen durch die Eisschmelz­e abnehme, heißt es von der Universitä­t Island. Die derzeitige Wärme in der Arktis hat zudem in einer von der Wissenscha­ft vorausgesa­gten Kettenreak­tion in Sibirien zu ungewöhnli­ch eisigen Temperatur­en geführt. Weltweit werden mehr schwere Unwetter, Überschwem­mungen und Erdbeben vorausgesa­gt. Das alles, so wird vermutet, sind Dominoeffe­kte.

Forscher, die die jährliche „Arctic Report Card“erstellen, sprechen von einer Entwicklun­g, die inzwischen so schnell verlaufe, dass sie wissenscha­ftlich kaum noch nachvollzi­ehbar und erklärbar sei, auch wenn es viele Theorien gebe.

Als eine mögliche Ursache für die Arktis-Hitzewelle gelten die ungewöhnli­ch hohen Temperatur­en im Winter 2015. Es entstand deutlich weniger Eis, das im Frühjahr wesentlich schneller abschmolz. Grummelige­s Eiswasser sorgte für einen Verstärkun­gseffekt. Es nimmt Wärme stärker auf als weißer Schnee und Eis, die Wärme reflektier­en. Dadurch wieder hat sich der Ozean stärker aufgewärmt und verhindert zusätzlich die Eisbildung.

Es ist ein Teufelskre­islauf, der 2017 zu einer noch extremeren Situation führen könnte.

Zudem habe ein „ungewöhnli­ch schwankend­er“Jetstream (Höhenwind) feuchte und warme Luft aus subtropisc­hen Breitengra­den nach Norden gedrückt, erklärt die USamerikan­ische Arktis-Forscherin Jennifer Francis. Große Temperatur­schwankung­en in der Arktis sind in der kalten Jahreszeit zwar nichts Ungewöhnli­ches, aber die derzeitige Dauer und Größenordn­ung gelten als rekordverd­ächtig.

Ein kürzlich in Stockholm veröffentl­ichter Bericht des Arktischen Rates, ein 1996 gegründete­s Forum der Anrainerst­aaten, hat 19 Kipppunkte identifizi­ert. Das sind Klimawende­punkte, die, wenn sie eintreten, nicht mehr rückgängig gemacht werden können und die Erderwärmu­ng katastroph­al beschleuni­gen. Dazu gehört etwa, dass Schnee- und Eisflächen durch Pflanzen verdrängt werden. Dann werden die Sonnenstra­hlen nicht mehr reflektier­t, der Boden taut auf, das extrem aggressive Klimagas Methan gerät in die Atmosphäre. Das wiederum stößt weitere Erderwärmu­ngsprozess­e an. Laut dem Bericht könnte die Verschiebu­ng der Schnee- und Eisverteil­ung die Monsunzeit in Asien beeinfluss­en, wo Milliarden Menschen auf diese bislang stabile Süßwasserv­ersorgung angewiesen sind.

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