Rekordschmelze verblüfft Forschung
Selbst die Wissenschaft ist über das Tempo verblüfft. Sie fürchtet eine Kettenreaktion.
Das Eis am Nordpol schmilzt in rasantem Tempo. Selbst die Wissenschaft ist erstaunt. Sie fürchtet nun einen Dominoeffekt auf das Weltklima.
STOCKHOLM. Wer im Sommer in Westgrönland mit dem Boot ausfährt, um die magisch glitzernden Eisberge zu bestaunen, hört von den alten Touristenführern, dass sie in den 1950er-Jahren noch doppelt so hoch aus dem Polarmeer ragten. Das menschliche Augenmaß wird von wissenschaftlichen Messungen bestätigt. Demnach schmelzen die Eismassen in der Arktisregion wegen der Klimaerwärmung immer schneller. Der Nordpol erlebte 2016 eine noch extremere Hitzewelle als schon 2015. Im November war es 20 Grad Celsius, in der Woche vor Weihnachten 30 Grad Celsius wärmer als über Jahrzehnte hinweg üblich. Temperaturen am Nullpunkt entsprachen denen in Teilen Deutschlands und Österreichs.
Seit Beginn der Satellitenmessungen vor 38 Jahren war die Eisdecke im hohen Norden noch nie so klein. Um zwei Millionen auf insgesamt 9,1 Millionen Quadratkilometer ist sie im Vergleich zu den Durchschnittswerten von 1981 bis 2010 geschrumpft. Das entspricht etwa der Größe Mexikos. Die Neubildung von Eis im Winter befinde sich auf einem historischen Tiefstand, heißt es vom deutschen Alfred-Wegener-Institut (AWI).
Auch in den Anrainernationen der Arktis ist der Klimawandel inzwischen deutlich zu spüren. In Norwegen wird Wein angebaut. Die jungen Rentiere in Spitzbergen wiegen rund sieben Kilogramm weniger als noch 1994. Der mildere Winter sorgt für mehr Regen, der ihnen als Eisschicht auf dem Boden den Weg zum Futter versperrt. Auf Island würden die Gletscher kleiner und könnten in 100 Jahren verschwunden sein, warnt Reykjavík. Die Erdkruste der Vulkaninsel erhöhe sich, weil der Druck auf die Landmassen durch die Eisschmelze abnehme, heißt es von der Universität Island. Die derzeitige Wärme in der Arktis hat zudem in einer von der Wissenschaft vorausgesagten Kettenreaktion in Sibirien zu ungewöhnlich eisigen Temperaturen geführt. Weltweit werden mehr schwere Unwetter, Überschwemmungen und Erdbeben vorausgesagt. Das alles, so wird vermutet, sind Dominoeffekte.
Forscher, die die jährliche „Arctic Report Card“erstellen, sprechen von einer Entwicklung, die inzwischen so schnell verlaufe, dass sie wissenschaftlich kaum noch nachvollziehbar und erklärbar sei, auch wenn es viele Theorien gebe.
Als eine mögliche Ursache für die Arktis-Hitzewelle gelten die ungewöhnlich hohen Temperaturen im Winter 2015. Es entstand deutlich weniger Eis, das im Frühjahr wesentlich schneller abschmolz. Grummeliges Eiswasser sorgte für einen Verstärkungseffekt. Es nimmt Wärme stärker auf als weißer Schnee und Eis, die Wärme reflektieren. Dadurch wieder hat sich der Ozean stärker aufgewärmt und verhindert zusätzlich die Eisbildung.
Es ist ein Teufelskreislauf, der 2017 zu einer noch extremeren Situation führen könnte.
Zudem habe ein „ungewöhnlich schwankender“Jetstream (Höhenwind) feuchte und warme Luft aus subtropischen Breitengraden nach Norden gedrückt, erklärt die USamerikanische Arktis-Forscherin Jennifer Francis. Große Temperaturschwankungen in der Arktis sind in der kalten Jahreszeit zwar nichts Ungewöhnliches, aber die derzeitige Dauer und Größenordnung gelten als rekordverdächtig.
Ein kürzlich in Stockholm veröffentlichter Bericht des Arktischen Rates, ein 1996 gegründetes Forum der Anrainerstaaten, hat 19 Kipppunkte identifiziert. Das sind Klimawendepunkte, die, wenn sie eintreten, nicht mehr rückgängig gemacht werden können und die Erderwärmung katastrophal beschleunigen. Dazu gehört etwa, dass Schnee- und Eisflächen durch Pflanzen verdrängt werden. Dann werden die Sonnenstrahlen nicht mehr reflektiert, der Boden taut auf, das extrem aggressive Klimagas Methan gerät in die Atmosphäre. Das wiederum stößt weitere Erderwärmungsprozesse an. Laut dem Bericht könnte die Verschiebung der Schnee- und Eisverteilung die Monsunzeit in Asien beeinflussen, wo Milliarden Menschen auf diese bislang stabile Süßwasserversorgung angewiesen sind.