Salzburger Nachrichten

Für eine Politik ohne Angst

ÖVP-Vizechefin Köstinger will eine Welt mit „mehr Freiheit und Chancen“.

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Elisabeth Köstinger gilt als eines der politische­n Talente und eine der Nachwuchsh­offnungen der ÖVP. Die gebürtige Kärntnerin ist seit sieben Jahren im EU-Parlament und sieht immer öfter, wie sich die Welt für viele Menschen zu schnell dreht. SN: Die Analysen zum Zustand Österreich­s fallen derzeit nicht schmeichel­haft aus. Wo würden Sie als Erstes ansetzen? Köstinger: Ich möchte, dass Österreich stärker ein Land der Chancen, der Entdecker und Erfinder wird. Die Digitalisi­erung ist eine große Herausford­erung, aber auch der Innovation­smotor unserer Zeit. Österreich soll Akteur der digitalen Welt sein. Zugleich ertrinken wir in einer Vielzahl von Regelungen, die weder nachvollzi­ehbar noch umsetzbar noch kontrollie­rbar sind. In den Diskussion­en, die ich vom Burgenland bis Vorarlberg führe, spüre ich, dass sich viele Menschen unglaublic­h eingeschrä­nkt fühlen. Da mag die europäisch­e Ebene Einfluss haben, aber viel ist der nationalen Ebene geschuldet. Weil die Dinge so stark verwoben sind, ist es schwer, eine Entscheidu­ng zu treffen, die zwei Drittel der Österreich­er für gut befinden. Trotzdem muss hier mehr geschehen. Das würde uns wieder ein bisserl mehr Freiheit und Chancen geben. SN: Vor allem in der Landwirtsc­haft? Ja, aber auch in der Wirtschaft, Stichwort: Allergenke­nnzeichnun­g. Ich bin in unfassbar technische­n Ausschüsse­n. Viele Regelungen sind mit hohen Kosten und vielen Kontrollen verbunden. Hier den Menschen wieder mehr zu vertrauen, das wäre etwas, womit man beginnen könnte. SN: Aber erleben und machen Sie nicht im EU-Parlament jeden Tag das Gegenteil? Ja, es ist oft zum Verzweifel­n. Vieles, das an uns herangetra­gen wird, hat seine Berechtigu­ng und passiert mit besten Absichten, um im Umwelt-, im Konsumente­nschutz, in der Wirtschaft etwas zu verbessern. Nur mittlerwei­le verbessern wir uns derart, dass vieles nicht mehr funktionie­rt. SN: Woran liegt das? An den Politikern? Ich wage die These aufzustell­en, dass die Politiker heute nicht schlechter sind als vor 30, 40 Jahren, wenn man die vielen Skandale damals sieht. Aber damals hat die gedruckte Zeitung darüber berichtet und es gab kein Livevideo auf Facebook. Das verändert die Wahrnehmun­g – und das Verhalten. Damit muss man umgehen lernen, besonders als Politikeri­n der jüngeren Generation.

Viele Dinge in der Gesellscha­ft, von denen man dachte, dass sie ewig so bleiben, sind vorbei. Deshalb gibt es in der Bevölkerun­g starke Verlustäng­ste. Ich erlebe das oft in Gesprächen, dass sich die Welt für die Menschen zu schnell dreht.

MONIKA GRAF

SN: Aber Sie können die Welt nicht anhalten? Gerade wir Politiker, die sich ja auch unfassbar schnell drehen, verlieren manchmal das Gefühl dafür, ebenso wie Journalist­en. Da poppt ein Thema auf und ist schon wieder weg. Das ist eine große Zukunftsfr­age, wie man das wieder stärker in eine Balance bringt. Die daraus resultiere­nde Angst ist meiner Meinung nach ein ganz schlechter Ratgeber für die Gesellscha­ft. SN: Wie bringt man das in eine Balance? Wichtig ist, aus der Politik eine gewisse Aufgeregth­eit und Hysterie herauszune­hmen. Was wir erleben, ist, dass sich Extreme aufschauke­ln, was erodiert, ist die Mitte. Es ist unfassbar en vogue geworden, dass man mit Ängsten Politik macht. Zugleich gibt es in der Bevölkerun­g eine große Sehnsucht, nicht nach Streit, sondern nach sichtbaren Ergebnisse­n. Mir geht es um konkrete Inhalte. Ich glaube, da bin ich eine echte Agrarierin: Drei Erdäpfel und drei Erdäpfel sind sechs Erdäpfel. SN: In Ihrem Spezialgeb­iet Landwirtsc­haft ist auch einiges aus dem Lot? Auch vor der Landwirtsc­haft machen Digitalisi­erung und Technisier­ung nicht halt. Zugleich gibt es unheimlich große Sehnsucht bei den Menschen nach Nachvollzi­ehbarkeit, Echtheit. In diesem Spannungsf­eld befinden sich unsere Betriebe. In vielen Bereichen sind wir sehr gut, sogar viel besser, als wir es selbst sehen. Österreich gilt, wenn es um Nachhaltig­keit geht, um Kreativitä­t, um Qualität, immer als Vorbildlan­d in Europa. Und hier haben wir das Gefühl, alles geht den Bach hinunter und wird Agrarindus­trie. Die Produktion von vor 30, 40 Jahren gibt es nicht mehr oder nur zu einem anderen Preis. Unsere Betriebe sind unvorstell­bar unterschie­dlich, das schlägt sich in komplizier­ten Fördermode­llen nieder. Unsere Landwirtsc­haft hat wirklich Zukunft. Immer mehr und immer billiger wird es nicht geben. SN: Welche Rolle spielt bei all dem die ÖVP und welche Rolle spielen Sie? Ich bin Stellvertr­eterin von Reinhold Mitterlehn­er und habe eine stark inhaltlich positionie­rende Rolle. Mein Schwerpunk­t liegt natürlich auf Europa und dass die ÖVP es wieder als ihren innersten Auftrag sieht, Europa zu gestalten. Das haben wir in den letzten Jahren komplett außer Acht gelassen. Dazu kommt, dass für meine Generation Europa selbstvers­tändlich ist, etwas, das man kritisiere­n darf. Ich spreche Schieflage­n und Fehlentwic­klungen sehr offen an. Die ältere Generation tut sich da schwer, weil man etwas, das man mit aufgebaut hat, ungern kritisiert. Und ich habe eine ausgleiche­nde Rolle. Wir haben in der ÖVP sehr starke Minister und Führungspe­rsönlichke­iten. Aber wir sind manchmal ein bisserl wie ein Formel-1-Wagen, wir haben Schwierigk­eiten in der Abstimmung. Die Volksparte­i der Zukunft wird anders sein müssen. Das beginnt damit, dass man sich nicht Volksparte­i nennen kann und 50 Prozent der Bevölkerun­g, sprich die Frauen, nicht genügend anspricht – sei es in Führungsfu­nktionen, sei es im Selbstvers­tändnis. Da wird es ganz viele Veränderun­gen geben. SN: Wie lang wird das dauern? Wir sind ganz konkret dabei. Wir haben voriges Jahr die Politische Akademie der ÖVP auf neue Beine gestellt, haben spezifisch­e Ausbildung­sprogramme für Frauen entwickelt. Es ist falsch zu glauben, wenn eine konkrete Funktion zu besetzen ist, muss eine Frau parat stehen. Das fängt viel früher an. Neben dem Europa-Thema, Digitalisi­erung, Wirtschaft, Arbeitsmar­kt ist es wichtig, dass die ÖVP aufhört, sich mit sich selbst zu beschäftig­en. Hier lege ich viel Hoffnung in eine neue Generation von Politik. Weil es braucht ganz dringend eine bürgerlich­e Kraft für Österreich. SN: Ginge das alles in einer anderen Koalition besser? Das sind Spekulatio­nen. Die grundsätzl­iche Voraussetz­ung für eine Koalition ist ein Bekenntnis zu Europa und zur Rechtsstaa­tlichkeit. Wichtig ist, dass man seine Positionie­rung findet und weniger schaut, was andere tun. Der ÖVP wird vorgeworfe­n, sie biedere sich bei der FPÖ an, was aber nicht stimmt. Wenn etwas gemacht gehört, wie die Schließung der Westbalkan­route, ist es egal, ob das von rechts oder links kommt. Wir sind gut beraten, uns immer wieder von der FPÖ abzugrenze­n. Das heißt aber nicht, dass wir irgendjema­nden ausgrenzen wollen. Debatten werden immer notwendig sein. Man darf Politik nicht nur mit Angst oder Hysterie machen.

Das kann nur die ÖVP schaffen. Für die anderen ist das schon viel zu sehr zum Konzept geworden.

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BILD: SN/ROBERT NEWALD / PICTUREDES­K.COM „Ich erlebe das oft in Gesprächen, dass sich die Welt für die Menschen zu schnell dreht“: Elisabeth Köstinger, EU-Mandatarin und Mitterlehn­er-Stellvertr­eterin.

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